Deckel drauf und alles in Ordnung
#Dieter Stoll, #Kritik, #Kultur, #Staatstheater Nürnberg, #Theater
Der Sandmann – Clara Weyde inszeniert E.T.A. Hoffmanns schwarzromantisches Schauerdrama in Nürnberg als Bilderspalier mit Sarg in der Trauerhalle.
„Hallo Leute, ich kann fliegen“, ruft der junge Mann im Livestream von der großen Leinwand – und nimmt Anlauf. Welch ein Irrtum! Es plumpst gewaltig, und die aus höchster Portalhöhe gestürzte Stellvertreter-Puppe klatscht auf die Vorderbühne, wo sie für den Rest des Abends mahnend liegen bleibt. Dem echten Nathanael, der als kindliches Opfer grausamer Betthupferl-Geschichten immer von Angst vor dem schwarzen Mann mit der blutigen Gier nach fremden, nämlich seinen Augen gebeutelt war und ihn nun real wieder trifft, wird in der Erwachsenen-Runde der latenten Sinn- und Überlebenskrise ein anderer Platz reserviert. Sanfte Ruhe ist vorerst nicht zu erwarten. Für Stabilität der Stimmung wäre gesorgt, der Sargdeckel ist bereits einladend hochgeklappt. Eine Trauerhalle mit Rednerpult und Sitzgelegenheiten zu geordnetem Beileid (Bühnenbildner David Hohmann holte dafür Inspiration vom kuriosen Trend zur gefakten Nahtoderfahrung in Südkorea) ergibt die Grundausstattung, das Metaphern-Mobiliar fürs professionelle Nachbeben von E.T.A. Hoffmanns schwarzromantischer Erzählung „Der Sandmann“, wie es Regisseurin Clara Weyde bei ihrer Inszenierung am Staatstheater Nürnberg sieht. Und das zeitweise in doppelter Ausfertigung, denn eine real umgesetzte Spiegelung der Szene, massiv wie das Original, stellt hinter der Schiebetür aus dem Hintergrund klar, dass sich hier niemand der Abgrenzung zwischen Traum und Trauma, Tief- und Wahnsinn sicher sein sollte. Alles kann Fakt sein oder Manipulation, was die schummrige Psycho-Logik des nicht mehr ganz so jungen Nathanael antreibt, wenn er zwischen der Vernunft-Verlobung mit seiner soliden Braut Clara, die so schön lachen und dabei Servietten falten kann, und der irrationalen Faszinationskraft des weiblichen Automaten Olimpia taumelt. Wo soll das nur hinführen.
Clara Weyde und Brigitte Ostermann haben für ihre Nürnberger Fassung nicht den forschenden Blick von außen gewählt, sondern die (von ihnen) gelenkte Fantasie des Nathanael zum Maß aller Dinge gemacht. Ein Standpunkt wird festgeklopft und an sehr elastischer Dramaturgen-Leine im großen Radius umkreist. Die Inszenierung folgt den Obsessionen des tragischen Helden quer durch alle irrlichternden Rückblenden, die da durch zungenbrechende Gedenkreden flimmern, und setzt seine Partner dem scharfen Blick der satirischen Zuspitzung aus. Die ganze Gesellschaft ist wie von Teletubbies durchpulst, Professoren und Trauerredner verschlucken sich am Tonträgersalat der eigenen Rhetorik, Schreckensfiguren huschen wie ein Gruß von Harry Potter in Todesser-Pose durch die Szene, ein Menuett rutscht in die Disco und Cliff Richard singt „Living Doll“. Mit dem Sackkarren wird die große Liebe für subtilere Aufgaben herbeitransportiert, der Automat Olimpia. Keine Puppe wie im Original, sondern „lernende Intelligenz“ verführt den Träumer zwischen den Welten und stöpselt sich in Notfällen selber zur Abschöpfung der nötigen Energien ins Netz. Die große Schwester von Alexa bleibt bis zum Exit mit sanfter Stimme im Spiel. „Wenn du Olimpia liebst, dann liebst du ein Programm“, wird gewarnt. Soll schon vorgekommen sein. Maximilian Pulst zieht als panisch naiver, von Angst und Sehnsucht umstellter Nathanael in ein spannendes Manöver gegen die Eindeutigkeit, das in den weltensprengenden Dialogen mit Pauline Kästners fleischgewordener Internet-Stimme die größten Erfolge hat. Die Flamme der Selbstauflösung lodert dann aber knarzend und funzelnd im Behauptungs-Modus, lässt Sturm brausen und legt Gebäude in Trümmer. Eher verwunderlich, ein Betriebsunfall ist ja keine Götterdämmerung. Immerhin, an Jacques Offenbach oder Robert Wilson denkt bei diesem „Sandmann“ niemand.
Aus dem Gedenk-Ritual am offenen Sarg zu Beginn der offenbar während der Endproben noch kräftig gekürzten Aufführung, für deren Belebung der tote Held im Interesse der Nachwelt nochmal aus seinen Seidenkissen aufgestanden war, entwickelte sich eine komödiantisch übermalte Schnell-Biografie von knapp hundert Minuten, die der geheimnisvoll dunklen Romantik des E.T.A. Hoffmann und ihrem Hang zum Schwebezustand nicht wirklich traut. Insofern ist gegen das Ende, wenn die lieben Freunde zur gemeinsamen Tat schreiten, kaum etwas einzuwenden. Der Außenseiter guckt nochmal hoffnungsvoll aus dem finalen Möbelstück auf den Lauf der Welt, aber das Kollektiv will nichts so sehr wie Ordnung: „Deckel drauf und alles Gute!“
Am Rande bemerkt: Die höhere Gewalt des Zufalls bohrte beiläufig als Fingerzeig in der Premiere. Sie fand im Schauspielhaus ohne gemeinsame Planung exakt am vorletzten Abend des 21. Internationalen Figurentheaterfestivals statt, wo zuvor schon an acht Tagen in der nächsten Nachbarschaft von Erlangen, Fürth und der Nürnberger Tafelhalle immer wieder Gruppen auftauchten, die bedeutungsvoll Roboter-Träume, Maschinen-Seelen und Prothesen-Poesie hingebungsvoll in Stellung brachten. Für den „Sandmann“ die nach Inhalt und Kilometern denkbar naheliegendste Fernbeziehung – so folgenlos wie ein Flirt mit Olimpia.
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Schauspielkritik von Dieter Stoll
für das Internet-Portal www.nachtkritik.de (Berlin)
Der Sandmann
von E.T.A. Hoffmann
Fassung von Clara Weyde und Brigitte Ostermann
Regie: Clara Weyde
Bühne: David Hohmann
Kostüme: Clemens Leander
Musik: Thomas Leboeg
Choreographie: José Hustado
Licht: Tonias Krauß
Dramaturgie: Brigitte Ostermann
Mit: Maximilian Pulst, Pauline Kästner, Anna Klimovitskaya, Annette Büschelberger, Sascha Tuxhorn, Felix Mühlen, Nicolas Frederick Djuren, Cem Lukas Yeginer, Tjark Bernau, Frank Damerius.
PREMIERE AM 1. JUNI 2019
Dauer: 1 Stunde 35, keine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
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