Theaterwegweiser im Juni

SAMSTAG, 1. JUNI 2019

#Dieter Stoll, #Gostner Hoftheater, #Kultur, #Opernhaus, #Staatstheater Nürnberg, #Stadttheater Fürth, #Tafelhalle, #Theater, #Theater Erlangen

Gruselromantik neben „Inneren Bühnen“ und Sprungbereiten Tänzer*innen in Nürnberg, Ein korrupter Richter mit Schürfwunde in Erlangen und ein adoptierter Wolf, der zum Musterschaf wird in Fürth – die letzte Premierenserie der Saison hat reichlich Kuriositäten.

WENN DER SANDMANN KOMMT, IST DAS SCHERBENGERICHT NICHT WEIT

Nur noch vier neue Produktionen (zwei Schauspiele, ein Ballett, eine Oper), dann kann die  Staatstheater-Leitung um Jens-Daniel Herzog mit der Bilanz ihrer ersten Nürnberger Saison die weitere Perspektive überprüfen. In Erlangen deutet Intendantin Katja Ott neben einer weit gefassten, als kulturpolitische Vertrauenserklärung erkennbaren Vertragsverlängerung auch die Anerkennungsprämie aus dem Berliner Kulturministerium (zusammen mit zehn anderen „kleinen und mittleren Theatern“ der Republik wurde das Stadttheater ausgezeichnet) als Prestigegewinn – und klettert für Kleist mal wieder auf den Regiestuhl. Am Gostner Hoftheater laufen die Vorbereitungen fürs 40-Jahres-Jubiläum und einen bereits eingefädelten Führungswechsel. In Fürth, wo Werner Müller eisern auf Linie bleibt, treffen sich die „jungeMET“ des Nürnberger Theater Pfütze und das Junioren-Team des Hauses mit dem Sound von Wolf und Schafen zur Parabel über die Angst vor dem Andern. Wer spontan genug ist, kann an den letzten beiden Tagen des Figurentheaterfestivals noch Höhepunkte erwischen. Danach dauert es zwei Jahre bis zur nächsten Runde.

INTERNATIONALES FIGURENTHEATERFESTIVAL

Das 21. internationale figuren.theater.festival im Städtegroßraum, das die Grenzen zwischen bewegten Objekten und bewegenden Bildern, großem Theater und großartiger Kleinkunst, auch zwischen schnörkelnder Tradition und provokant explosiver Avantgarde pulverisierte, hat sein finales Wochenende. Über folgende Gastspiele an den letzten beiden Abenden sollte man schnell noch nachdenken:  

SAMSTAG, 1. Juni   Die United Puppets mit der Maler-Hommage ÜBER DEN KLEE im Theater Salz+Pfeffer. +++ Die Gruppe Berlin aus Belgien, spezialisiert auf Doku-Video-Performance, mit TRUE COPY, einer wahren Geschichte, die auch Parabel über die Relativität von Wahrheit ist. Im Mittelpunkt der Fälschungskünstler Geert Jan Jansen, der 1994  festgenommen wurde, weil er mehr als 1600 Bilder, alles angeblich authentische Werke bis hin zu einem verschollenen Picasso in Umlauf brachte. In der Tafelhalle. +++ Die rumänische Synchret Theatre Company mit GODOT – Neun Akteure dieses ganz auf Klassiker konzentrierten Ensembles zeigen in deutscher Erstaufführung ihre Interpretation von Becketts „Warten auf Godot“. Ganz ohne Worte mit japanischen Bunraku-Puppen, die jeweils von mehreren Spielern gleichzeitig geführt werden. Im Kulturforum Fürth

SONNTAG, 2. Juni   Compagnie 111/Aurélien Bory aus Frankreich mit ASH – Nach „Plan B“, „Sans Object“ und „Plexus“ schon die vierte Bory-Produktion für das Figurentheaterfestival. Mittelpunkt und auch Choreographin ist diesmal die aus Indien stammende Tänzerin Shantala Shivalingappa, die Blickfelder aus Asche entstehen und verwehen lässt. Percussion-Sound und vibrierende Bilder gehören zu den Eindrücken, die Vergangenheit der Tänzerin in einer der letzten Stücke von Pina Bausch schimmert durch. +++ Markgrafentheater Erlangen zum Festival-Finale, dort auch schon am 1. Juni zu sehen. +++ Kafkas EIN BERICHT FÜR EINE AKADEMIE mit Samuel Koch & Robert Lang. Nur 30 Minuten lang, aber ein höchst intensives Erlebnis. Im Kulturforum Fürth.
Infos unter www.figurentheaterfestival.de


STAATSTHEATER NÜRNBERG

PREMIERE   Mit dem ähnlich berühmten Betthupferl-Genossen des DDR-Fernsehens, der sogar die Wiedervereinigung wendefrei überstand, hat diese wahrhaft schröckliche Figur nichts zu tun. Eher mit Stephen King, denn hier wird nicht geschlummert, hier wird gealbträumt. Aus dem Fantasy-Nachlass von E.T.A. Hoffmann lag DER SANDMANN immer wieder weit  vorne im Trend. Die gespenstische Novelle aus dem „Schauerroman“-Zyklus von 1816 gehört zu den bedeutendsten Werken des vielseitigen Künstlers. Diese oft dramatisierte Trauma-Story wurde nicht nur mit besonderem Appetit von Jaques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ geschluckt, sondern lieferte bis in die jüngste Vergangenheit Stoff für Musical, Film, Schauspiel und Popkultur bis hin zum Rabiat-Rock von Rammstein. Schauerliche Poesie, die den kleinen Nathanael bis ins Liebesleben verfolgt: Die beruhigende Clara und die erregend puppige Olimpia umschlingen ihn. So viele Ansätze, dass laut spöttischem Kenner-Urteil „die Zahl der Deutungen ein derartiges Ausmaß erreicht hat, dass die Interpretation wie eine literaturwissenschaftliche Spezialdisziplin anmutet, an der Vertreter aller methodischen Richtungen teilhaben.“ Dem wird die Nürnberger Neuproduktion der jungen Regisseurin Clara Weyde, die zuletzt in Norddeutschland gespenstisch nah angesiedelten Autoren wie Lars von Trier und Franz Kafka inszenierte, eine weitere Bilderrausch-Variante hinzufügen.
Premiere: 1. Juni. Weitere Aufführungen 2., 7., 19., 25., 27. Juni im Schauspielhaus.

PREMIERE    Im kleinen Rahmen auf der Opernhaus-Probebühne sahen wir Wolfgang Rihms Kammeroper JAKOB LENZ nach Georg Büchners Novelle bald nach der Entstehung 1979. Jetzt kehrt das seither an vielen Theatern gespielte Werk auf großer Szene zurück. Ein Sturm-und-Drang-Dichter, der in die Schizophrenie gleitet und bei dieser Loslösung von der Realität „innere Bühnen“ zur Entfaltung baut. Das Stück aus 13 Bildern zählt zu den größten Dauererfolgen des zeitgenössischen Musiktheaters, weil der emotional ansprechende Klang jenseits blockierender Neutöner-Regeln direkt auf den Zuhörer wirkt. Büchner schrieb seinen Text als blutjunger Autor, Rihm war grade 25 als er ihn vertonte. Die Produktion ist auch ein Nürnberg-Comeback von Regisseur Tilman Knabe, der hier als junges Provokations-Talent die Strauss-Oper „Ariadne auf Naxos“ mit dem Weltkarriere-Start von Marlis Petersen als Zerbinetta inszenierte. Er wird seither von den mutigeren Opernintendanten für besondere Projekte bevorzugt (nächste Saison wird er Brittens „Peter Grimes“ in Nürnberg angehen), gilt immer als eigenwilliger Interpret. Das intime Kunstwerk so auszubreiten, kann man als Experiment einstufen. In der Titelrolle gab es zu Probenbeginn eine Umbesetzung. Statt Jochen Kupfer, dazumal war es Barry Hanner in Regie von Peter Beat Wyrsch, tritt jetzt als Gast der Bariton Hans Gröning an. Er hat die Partie bereits in Kopenhagen, Brüssel, Rotterdam und Paris gesungen. Es dirigiert Guido Johannes Rumstadt.
Premiere: 26. Juni. Dann noch am 25. und 30. Juni im Opernhaus.

PREMIERE   Von den vielen Sparten des Staatstheaters hat keine andere so begeisterungsfähige Fans wie das offiziell immer noch nach alter Väter Sitte „Ballett“ genannte Tanztheater. Früher bei der stilistisch ganz anders orientierten Daniela Kurz waren die Reaktionen schon manchmal so euphorisch, aber seit Goyo Montero vor elf Jahren die Compagnie am Opernhaus übernahm, gilt der stürmische Premierenjubel als Normalfall. Und klar ist: Nie war das Ensemble besser als heute. Nach dem groß angelegten „A Midsummernight´s Dream“ und dem hochklassigen Choreographen-Dreiteiler Kylian/Goecke/Montero im Opernhaus dürfen die Tänzer*innen zum Spielzeit-Finale wieder im kleineren Rahmen Anlauf nehmen – zum Sprung in die eigene Fantasie. Das „Dritte Programm“ der Saison gehört exklusiv den jungen Talenten, Tatort bzw. Springfeld ist nur im Juni das Schauspielhaus. Der rätselhaft wirkende Übertitel EXQUISITE CORPSE – JUNGE CHOREOGRAPHEN verweist auf ein Spiel mit Papier-Faltungen, wo es um kollektiv behandelte Sammlung von Wörtern oder Bildern geht. So wie sich dort in langer Fortsetzung immer wieder ein weiterer Beteiligter mit seiner Idee jeweils an das Ende des vorausgehenden Projekts hängt, so haken sich die jungen Choreographen bei der Tanz-Schleife nacheinander mit ihren Entwürfen zur bewegenden Kettenreaktion ein. Mehr als ein Dutzend Tanzende, die man sonst solistisch und im Gruppen-Tableau auf der Bühne sieht, also über die Hälfte der komplett antretenden Compagnie, ist dabei im doppelten Einsatz. Sie haben als Choreographen eigene szenische Miniaturen mit Partnern einstudiert, tanzen aber auch bei deren Stücken rundum quasi über Kreuz mit und können sich so als Schöpfer und Interpreten doppelt am Abend emporranken.
Premiere: 15. Juni. Dann nur noch am 20., 22., 26., 28. Juni im Schauspielhaus.

PREMIERE   Bis nach Berlin reichen die Fühler der Uraufführung, die als letzte Kammerspiele-Premiere im Spielplan auftaucht. INDEPENDENCE FOR ALL ist ein multimediales Projekt der Costa Compagnie und wird auch am Staatstheater Oldenburg und im Ballhaus Ost der Hauptstadt zu sehen sein. Es geht um das Völkerrecht der Selbstbestimmung, um die Ausgrenzung als Gegenbewegung, um die internationale Bedeutung dieser gesellschaftlichen Irritation. Basis ist weitläufige Recherche – in Franken, im Brexit-Königreich, im Südsudan. Felix Meyer-Christian montierte den Text und führte Regie mit einem Darsteller-Quartett.
Premiere: 20. Juni. Weitere Aufführungen 22., 23., 24. Juni in den Kammerspielen.

PREMIERENFRISCH   Eigentlich wollte der legendäre Münchner Theatermacher Dieter Dorn (mit 83 Jahren immer noch ein gefragter Gastregisseur) für sein spätes Nürnberger Debüt Becketts gedankenreiches Sandkastenspiel „Glückliche Tage“ mit dem seltener aufgeführten Grotesken-Einakter HERZLICHES BEILEID von Georges Feydeau kombinieren. Becketts allzeit strenge Erben untersagten die originelle Idee, man konzentrierte sich zwangsläufig auf den giftigen Spaß des französischen Komödianten und lässt in der Kleinkunst einen Hauch von Beckett ahnen. Ulrike Arnold, Thomas Nunner, Yascha Finn Nolting und Süheyla Ünlü treffen sich zum nächtlichen Disput am Bett, wo die Botschaft vom plötzlichen Tod der Schwiegermutter in Schadenfreudentänze mündet. Am Anfang liegt ein riesiges Seidentuch, eine schillernde Mischung aus Traumgespinst und Negligé-Zwangsjacke, über der Szene. Dann wird den Komödianten das Trugbild entzogen und sie taumeln durch die Pappkulisse der Bürger-Möblierung. Ganz schön raffiniert, diese Hommage an die Banalität.
Aufführungen: 8., 18. Juni im Schauspielhaus.

PREMIERENFRISCH   Es ist wieder mal alles etwas anders als sonst bei Richard Wagners strikt rätselhaft bleibendem Erlöser-Drama LOHENGRIN, wo die bedauernswerte Elsa ihren „aus fernem Land“ angereisten Bräutigam noch in der Hochzeitsnacht nicht nach seiner Herkunft fragen darf.  In der langen Reihe Nürnberger Inszenierungen des dunkel-romantischen Musiktheater-Monsters hat der junge Regisseur David Hermann einen frechen Blick als Behauptung gesetzt. Bei ihm ist „das Volk“ (= der Chor) in zivilisierte Christen und urige Barbaren frontal aufgeteilt: Asterix trifft Game of Thrones, die bei Wagner nur in anderen Werken vorgesehenen Bekenntnis-Vorstandsvorsitzenden Parzival und Wotan sind pantomimisch intensiv dabei. Zum Überraschungs-Finale gibt es statt Happy-End den Sieg des Bösen als Hokuspokus nach Ratschluss der Senioren-Götter. Für die Hauptrolle tritt in popbuntem Gewand der Kanadier Eric Laporte an. Er singt souverän und spielt nach Vorschrift. Das gehört nicht zur „guten Portion Humor“, wie sie der Regisseur ankündigte. Einhelligen Beifall von Publikum und Kritik gab es für die junge Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz, die bei ihrer erst zweiten Nürnberger Premiere die bislang eher schmale persönliche Wagner-Basis, immerhin ein halber „Ring des Nibelungen“ in Riga, mit Bravour erweitert.
Aufführungen: 2., 8., 16., 29. Juni im Opernhaus.

LETZTER AUFRUF   Abschied vom Auftakt: Die Aufführung EIN STEIN FING FEUER nach Ionesco, mit der Jan Philipp Gloger seine Schauspieldirektion programmatisch startete, wird letztmals gezeigt. Eine anregende, amüsante Begegnung mit der Avantgarde von gestern (als „Die kahle Sängerin“ und „Die Unterrichtsstunde“ noch skandalträchtig waren) im Blickfeld von heute (wo Schauspieler wie Artisten im Bühnenbild klettern). Am Ende darf das Publikum zum Sekt auf die Bühne. +++ Ob man Tschechow melancholisch oder komisch sehen soll, ist eine Streitfrage unter Regisseuren und Zuschauern. Anne Lenk entschied sich bei ihrer Inszenierung von DIE MÖWE in Nürnberg für die Grimasse als Maskerade der Seele. So richtig überzeugend war es nicht, aber ganz unterhaltsam. Noch in drei Vorstellungen überprüfbar. +++ Wer bei einer 2019 entstehenden Inszenierung von Mozarts COSÍ FAN TUTTE, dieser musikalisch so wunderbar umschmeichelnden und im Libretto so platt machoseligen Männerwette auf die Frauentreulosigkeit, die Untiefen der zeitnahen #MeToo-Aufregung für unvermeidlich hält, muss in Nürnberg die Augen reiben – kann sich aber wenigstens auf die Ohren verlassen. In der Buffo-Gaudi der Klebebärte verwandelt sich hier das Herren-Duo per Maskerade in eine späte Hommage an Erkan & Stefan. Jens-Daniel Herzog arrangiert ein junges, leichtstimmiges Ensemble, nimmt den Jux-Anteil offensiv an. Lutz de Veer schälte vom Pult aus gekonnt den harten Kern aus dem magischen Amadeus-Sound.  +++ Nach der „letzten“ noch eine kurzfristig angesetzte allerletzte Aufführung der mächtigen Prokofjew-Literaturveroperung KRIEG UND FRIEDEN. Staatsintendant Jens-Daniel Herzog holt seine aufwendige Produktion für 14. Juni, und nur für diesen Abend, aus dem Archiv zurück, weil er mit dieser glänzend bewältigten Rarität bei der Jahrestagung des Deutschen Bühnenvereins (Intendanten, Kulturpolitiker, Verwaltungschefs reisen an) das Nürnberger Image polieren kann. GMD Joana Mallwitz dirigiert, Restplatz genug für Spontanbesucher zum Nach- oder Wiederholen gibt es vorläufig noch.
Letzte Vorstellungen: Ein Stein fing Feuer 13. Juni +++  Die Möwe am 21., 30. Juni und dann nur noch am 16. Juli im Schauspielhaus +++ Cosi fan tutte  am 1. und 10. Juni +++ Krieg und Frieden am 14. Juni im Opernhaus.

EXPERIMENTE   Von einer „Vorbereitung zukünftiger Vorstellungen“ ist bei der Uraufführung TEUTONA von Oliver Zahn im Untertitel die Rede. Und das, so das Konzept, mit jeder Aufführung immer wieder neu ansetzend. ESSAYPERFORMANCE nennt sich das Genre, das Training als Vorbereitung auf Zukunft bietet und einen „weißen deutschen Mann“ visionär in der eigenen Entwicklung stochern lässt. Dass der Fonds Darstellende Künste das „Hauptaktion“-Projekt (mit Partnern der freien Szene in Stuttgart, Salzburg und Bremen) fördert, verweist auf die Stoßrichtung. Malte Scholz spielt das Solo, der Autor als Regisseur und Konzeptkünstler wird von Kamera, Video und Lichtspielen unterstützt. +++ Die Autorin Petra Hulová gilt als Talent der tschechischen Gegenwartsliteratur, der Regisseur Armin Petras ist Deutschlands emsigster Theatermacher und das Stück über den Traum einer Welt ohne Sexismus ist der Versuch sprachgrenzüberschreitender Uraufführung mit drei gestaffelten Premieren. Als EINE KURZE GESCHICHTE DER BEWEGUNG am Stuttgarter Staatstheater erstmals in Fragmenten zu sehen war, hatte Petras dort noch das Amt des Intendanten. Zusammen mit Nürnberg und Prag war das zweisprachige Projekt im Dreieck eingefädelt. Es geht um ein feministisches Umerziehungsprogramm, das „satirisch und kontrovers“ nach dem Weg in die bessere Zukunft Ausschau hält. Licht-Design von Norman Plathe ersetzt  konventionellen Bühnenbild-Bau. +++ Ob man Roman Ehrlichs komplexen, sehr dicken Roman DIE FÜRCHTERLICHEN TAGE DES SCHRECKLICHEN GRAUENS wirklich in ein 150-Minuten-Kammerspiel verwandeln kann, ist auch nach der bemühten Nürnberger Teilinterpretation  ungewiss. Es geht um einen gruseligen Selbstversuch, bei dem sich eine sektiererische Gruppierung im Kneipennebenzimmer regelmäßig zur Abschöpfung von individuellen Ängsten trifft, um aus den Erkenntnissen vielleicht einen B-Movie zu drehen. Regisseurin Anne Lenk hat die zweite Hälfte des anspruchsvollen Buches ignoriert und die erste für ein Duo-Drama eingerichtet. Das hat Reizmomente, bleibt dem Buch aber viel schuldig.
Aufführungen: Eine kurze Geschichte der Bewegung  am 8. Juni, Kammerspiele +++ Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens am 12., 29. Juni +++ Teutona am 26. Juni in der 3. Etage.

RÜCKKEHR NACH EINLADUNGEN   Export-Produkte, die auch zuhause nochmal zu sehen sind. Die Nominierung für den Nachspielpreis beim „Heidelberger Stückemarkt“, wo eine Jury über vorbildliche Zweit-Inszenierungen von Uraufführungen urteilt, gab  der Aufführung DER ZORN DER WÄLDER vom Saisonstart noch einmal einen Kick. Aber nur daheim, in der harten Festival-Konkurrenz hatte das klischeeverliebte Stück im Stil des süffigen Schwarzweiß-Kinos keine Chance. +++ Bei den Autorentagen des Deutschen Theaters Berlin folgt die AUFFÜHRUNG EINER GEFÄLSCHTEN PREDIGT ÜBER DAS STERBEN vom Saisonstart. Autor Boris Nikitin forschte über „das Sterben-Können als Befreiung“. Zwei Gospelchöre gehören zur Besetzung, ein Kritiker dichtete in seiner Rezension, das sei „ein Weckruf für das Leben“.
Aufführungen: Der Zorn der Wälder am 14., 21. Juni +++ Aufführung einer gefälschten Predigt über das Leben am 5. Juni in den Kammerspielen.

„HAUSTRONAUT“ IN DEN KAMMERSPIELEN   Hausautor Philipp Löhle, der sich selbstironisch „Haustronaut“ nennt, schickte nach dem anhaltenden Erfolg der Baumwollflöckchen-Weltreise DAS DING von den Ruhrfestspielen 2012 mit Nürnberger Wiederaufbereitung 2018 sein neues Stück mit demselben Regisseur auf gleicher Bühne los. Er ist damit am Staatstheater der einzige Autor mit zwei kompletten Produktionen im Spielplan. +++ Jan Philipp Gloger inszenierte Löhles Uraufführung AM RAND (EIN PROTOKOLL) mit stabilisierenden Einfällen. Es geht um ein fiktives Grenz-Dorf, das mit seinen Schein-Problemchen zum Modellfall für die Weltlage ernannt wird. Ein pelziger Troll trifft Kinder im Wald, ein „staatenloses Wildschwein“ trampelt die zivilisatorische Ordnung nieder, offene Haustüren und Fahrradschlösser sorgen für Anarchie. Randhausen ist aus den Fugen.
Aufführungen: Am Rand am 15. Juni. +++ Das Ding am 29. Juni in den Kammerspielen.

OPERN-BESTSELLER   Neuer Bestseller-Versuch mit der bittersüß parfürmierten Harakiri-Elegie MADAMA BUTTERFLY, die herzergreifende Arien für die asiatische Titel-Sopranistin und schmetternde Schuft-Auftritte ihres  US-amerikanischen Tenor-Verführers fürs große Schluchzen bereit hält. Die reisende Schauspielregisseurin Tina Lanik macht da nicht mit, sie tastete sich distanziert an den allseits geliebten Überschwang der Gefühle und stülpt Gegenwart wie eine Glashaube übers Melodram. Die usbekische Sopranistin Barno Ismatullaeva und die Texanerin Emily Newton alternieren in der unterkühlten Titelpartie. Der polnische Tenor Tadeusz Szlenkier singt wacker den treulosen Pinkerton. Am Pult lenkt Kapellmeister Guido Johannes Rumstadt die äußerlich beherrschte, tief innerlich tobende Gemütslage.
Aufführungen: 4., 9., 15., 22. Juni im Opernhaus.

MUSICAL & OPERETTE    Wo im Kino „Der Mann der vom Himmel fiel“ knapp 40 Jahre zuvor endete, setzte Dramatiker Enda Walsh zusammen mit Film-Hauptdarsteller David Bowie kurz vor dessen Tod für dieses einzige Musical des ansonsten als Sänger, Schauspieler und Stilikone vermarkteten Stars entlang an 17 alten und nachgeschobenen Songs an: LAZARUS. Außerirdischer auf Erden-Besuch. In Nürnberg findet man sich in einer Airport-Abfertigungshalle mit der unheimlichen Wechselwirkung zwischen Kathedrale und Geisterbahn wieder. Regisseur Tilo Nest inszenierte ein düsteres Videoclip-Oratorium, in dem die singenden Schauspieler erfrischend individuellen Bowie-Interpretationsstil pflegen. +++ Venedig und Nizza sind die dekorativen Handlungsorte, aber das Temperament von Paul Abrahams BALL IM SAVOY deutet aufs Berlin der frühen Dreißiger-Jahre. Die flotte Revue-Operette kokettierte mit Jazz und Jokus, wurde offiziell von den Nazis verboten, hatte nach deren Herrschaft ein spießiges Comeback im Schnulzen-Sound der biederen Bundesrepublik und durfte erst spät wieder so ungebunden frech sein wie früher. Die flotten „Ball im Savoy“-Arrangements werden in Stefan Hubers Nürnberger Inszenierung ausgekostet. Das gurrende „Toujours  l´amour“  klingt, wenn die richtigen Wimpern klimpern, wie eine individuelle Unverschämtheit, und weil das nur mit besonderer Begabung funktioniert, treten in Nürnberg die Geschwister Pfister mit explosiver Travestie-Turbulenz an.  Fabelhaft! +++ Kino-Großmeister Steven Spielberg fetzte die Verfilmung dieser Hochstapler-Story mit dem jungen Leonardo DiCaprio 2002 hin. CATCH ME IF YOU CAN gehört seither zu den ewig kreisenden Hollywood-Titeln in der TV-Wiederholungsschleife. Die zehn Jahre später entstandene Musical-Fassung  von „Hairspray“-Filmkomponist Marc Shaiman gab dem sympathischen Gauner, der Pseudokarrieren als unrechtmäßig praktizierender Pilot, Arzt und Anwalt gegenüber jedem geordneten Leben bevorzugt, noch mal anderen Schwung.
Aufführungen: Lazarus am  16., 23., 29. Juni im Schauspielhaus +++ Ball im Savoy am 3., 20., 24. Juni +++ Catch me if you can am 7. und 28. Juni im Opernhaus.

KLEINKUNST-HIGHLIGHT   Eingefädelt wurde die Produktion als SOUND OF THE CITY, längst heißt sie DIE MUSIK WAR SCHULD und ist „ein Nürnberger Liederabend“ mit Songs, Arien, Schlagern und Gedichten. Am „Ehekarussell“-Brunnen führt eine Versammlung erhobener Stimmen von Pachelbel über Rio Reiser und Richard Wagners „Meistersinger“ bis zur Familie Joel. Von der klingenden Kirchenmusik-Historie zur Straßenmusik der Gegenwart schweifen Blick und Stimme. Ein wenig Infotainment darf auch sein. Sechs musikalisch talentierte Komödianten suchen den passenden Ton in Randnotizen der Stadtgeschichte mit dem lautesten Einsatz für den (nur eventuell) verkannten Wuchtbrunnen-Architekten Jürgen Weber und dem letzten leisen Wort für Poet Hermann Kesten.
Termin: 26. Juni in den Kammerspielen.

EXTRA   Zur Inszenierung reicht es zwar leider nicht, aber in diesem Konzert steckt Dramatik: Igor Strawinskys DIE GESCHICHTE VOM SOLDATEN wird von GMD Joana Mallwitz und der Staatsphilharmonie am 23. Juni in der „Querformat“-Reihe als Matinee im Historischen Rathaussaal aufgeführt.

STAATSTHEATER NÜRNBERG
Richard-Wagner-Platz 2-10, Nbg
staatstheater-nuernberg.de


GOSTNER HOFTHEATER

COMEBACK   Die Todessehnsucht der Mutter, durch einen Selbstmordversuch offenkundig geworden, lässt ihr Kind nicht ruhen. Eine lange, immer länger werdende Liste mit allem, was gut ist an diesem Leben, soll die Depressionen bekämpfen. Hoffentlich versteht die Adressatin den Wink mit dem Zaunpfahl. In Duncan Macmillans ALL DAS SCHÖNE wird das als Erinnerung erzählt, im Plauderton unter Freunden wie im Wirtshaus. Manchmal traurig, oft im Rückblick erheitert, jedenfalls als Einladung zum Mitgefühl.
Gerd Beyer redet und erspürt dabei die Geschichte – und wird vom Musiker Jan Bratenstein mit Folksongs begleitet. Distanz gibt es nicht, die Aufführung ist in die Theaterkneipe Loft in der Tiefe des Gostner Hoftheaters eingepasst.
Wiederaufnahme: 6. Juni, sowie 7., 8., 13., 14., 15. Juni im Loft.

COMEBACK   Eine Antwort auf die Frage, wie abenteuerlich eine Wanderung durch Gostenhof sein kann, hängt wohl von der Reisebegleitung ab. Mit Don Quijote und Sancho Panza, von Cervantes ursprünglich für andere Landstriche erfunden, ist das reinste Gruppendynamik mit imaginären Nürnberger Windmühlen. being DON QUIJOTE? steht über dem Betriebsausflug für Literatur- und Dramenpflege mit dem gewissen Augenzwinkern, wo der Zuschauer (bitte keine Pumps!) knapp zwei Stunden über Stadtteil-Pfade in Hinterhöfe und Kirchengestühl spaziert. Straßentheater mit Oasen. Thomas Witte, Tammo Winkler und Barbara Seifert sind das Basispersonal des Ur-Wälzers, Robert Oschatz macht Musik ohne Seitenblick auf den „Mann von La Mancha“. Start und Ziel ist der Hof im Gostner.
Wiederaufnahme: 27. Juni. Weitere Termine 28., 29. Juni, dann wieder 3. bis 6. Juli, Gostner Hoftheater.

GOSTNER HOFTHEATER
Austr. 70, Nbg
gostner.de


TAFELHALLE

PREMIERENFRISCH   Ein Regisseur, der auch Choreograph ist, sucht das theatralische Potenzial eines Romans, der auch Skandalstoff wurde. Barish Karademir, nach Entdeckungen am Gostner Hoftheater und ständiger Präsenz am Fürther Theater (zuletzt „Liliom“) seit Jahren an der Tafelhalle mit Sonderstellung für großformatige Experimente wie Falk Richters „Je suis Fassbinder“ ausgestattet, macht aus dem Bestseller IM HERZEN DER GEWALT sein spartenübergreifendes Drama. Im autobiographischen Buch, mit 23 Jahren geschrieben und 2016 als Entdeckung gefeiert, rekonstruiert der französische Jung-Autor Édouard Louis (Neuerscheinung von 2018: „Wer hat meinen Vater umgebracht?“) die Geschehnisse einer dramatischen Nacht, die das Leben für immer verändert. Auf der Pariser Place de la République begegnet Édouard dem jungen Reda, einem Immigrantensohn mit Wurzeln in Algerien, und nimmt ihn mit in seine kleine Wohnung. Was als zarter Flirt beginnt, schlägt um in Gewalt. Louis erzählt dabei von Kindheit, Begehren, Migration und Rassismus – auch von Homophobie und Machtmissbrauch. Barish Karademir verwandelt die Drucksache anders als etwa Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne in ein spartenoffenes Theaterstück, das Schauspiel (mit fünf Personen) und Tanz (mit drei Aktiven) verbindet.
Aufführungen: 8. und 9. Juni  in der Tafelhalle.

TAFELHALLE,
Äußere Sulzbacher Str. 62, Nbg
tafelhalle.de


THEATER ERLANGEN

PREMIERE   Als „ein Scherbengericht“ ist Kleists Lustspiel DER ZERBROCHENE KRUG in der Erlanger Neuinszenierung von Intendantin Katja Ott angekündigt. Wie der korrupte Dorfrichter Adam die eigenen Verfehlungen vertuschen und seinen Prozess nach Gewohnheitsrecht manipulieren will. Ein zertrümmerter Krug, eine blutige Schürfwunde, viele Ausreden – und der zweifelhafte Sieg des Guten. Man kann die Bruchstellen in Keramik, Moral und Rechtsprechung aus nächster Nähe betrachten, denn der Komödienklassiker wird mit nachgerücktem Publikum auf der Hinterbühne gespielt. Ralph Jung gibt den Adam, der die Eve nicht verführen kann. Mit der Floskel „Dem Amte wohlbekannt“ schraubt er an der Wahrheit, bis es knirscht.
Premiere: 28. Juni. Weitere Aufführungen 5. bis 7. Juli im Markgrafentheater.

WEITER IM SPIELPLAN   Live-Theater als Kinosimulation, Aufführungsrealität in der Fake-Dramatik von Dreharbeiten. Für die Inszenierung von Orwells FARM DER TIERE, dieser klassenkämpferischen Fabel mit der unvergesslichen Zeichentrick-Umsetzung, versucht die Erlanger Regie von Klaus Gehre eine  eigene Version von Live-Film-Inszenierung. Die Tiere, die gegen die ständige Ausbeutung durch Menschen eine Rebellion wagen, haben nichts mit „Bambi“-Niedlichkeit zu tun. Schweine sind hier besonders klug, und der theoretische Menschheitstraum von der besseren Welt rückt dem Kampf-Slogan „Alle Tiere sind gleich“ samt der angewachsenen Pervertierung „… aber manche sind gleicher“ sehr nah. +++ Aus der Zeit gefallen sind so manche Theatertexte, aber es gibt auch welche, die buchstäblich „in die Zeit fallen“. David Mamets OLEANNA aus dem Jahr 1992 erzählt vom eskalierenden Machtspiel zwischen Professor und Studentin, das  schon damals für intellektuelle Auseinandersetzungen sorgte, im Licht der gegenwärtigen Missbrauchsdebatte jedoch ganz andere  Schärfe gewinnt. Die Klärung der offen bleibenden Schuldfrage klebt geradezu am Verdacht von gesellschaftlicher Empörung als Trend. Janina Zschernig und Hermann Große-Berg spielen in Erlangen das Duo im Kampf um die Deutungshoheit.
Aufführungen: Farm der Tiere am 5. Juni im Markgrafentheater +++ Oleanna am 30. Juni im Theater in der Garage.

LETZTER AUFRUF   Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrer-Drama DRAUSSEN VOR DER TÜR findet in größeren Abständen immer wieder neue Denkansätze, die über die Erinnerung an zertrümmerte Landschaften hinausreichen. Eigentlich ein großformatiges Drama, doch in der Erlanger Version führen ein Schauspieler und ein Musiker durch poetisches Konzentrat bis in die Gegenwart.  
Letzte Vorstellungen: 4. und 6. Juni im Theater in der Garage.

THEATER ERLANGEN
Theaterplatz 2, Erlangen
theater-erlangen.de


STADTTHEATER FÜRTH

PREMIERE   Wer hat Angst vor dem bösen Wolf? Das kinderlose Schafpaar, das den kleinen Waisen-Wolf am Grenzzaun entdeckt, jedenfalls nicht. Die Ersatzeltern machen aus dem Pelz-Junior das  kuschelige Modellschaf Ferdinand – vermutlich nach dem Motto „Man muss nur wollen“. Was ein wenig nach frühem Walt Disney oder spätem Schweinchen Babe klingt, hat der deutsche Comiczeichner, Autor und Theatermacher Martin Baltscheit unter dem Titel DIE BESSEREN WÄLDER für seine emanzipatorische Fabel verarbeitet. Die unterschwellige Angst vor dem Fremden wird dabei offensiv angegangen. In diesem Stoff, sagen die Interpreten vom Nürnberger Theater Pfütze (die sich bei klingenden Produktionen immer anspruchsvoll „jungeMET“ nennen) und dem Stadttheater Fürth, steckt nicht Panik, sondern Musik. Dominik Vogl komponierte sie und dirigiert die Aufführung (Regie: Jürgen Decke) mit sieben Musiker*innen und dem kombinierten Ensemble aus Nürnberg/Fürth. Übliches „Kindertheater“ ist das sicher nicht, die Zielgruppe derer „ab 13 Jahren“ ist nach oben weit offen und in mehreren Abendvorstellungen auch für träumerisch veranlagte Erwachsene zu empfehlen.
Premiere: 23. Juni. Weitere Abendvorstellungen 28., 29. Juni im Kulturforum Fürth.

GASTSPIEL   Wer die nächste Nürnberger Inszenierung von Bizets populärster Oper zwischen Zigarettenfabrik und Stierkampfarena nicht abwarten mag, kann mit einer CARMEN aus Meiningen überbrücken. Das Thüringer Staatstheater, das seinen Ruf gegen alle Krisen halten konnte, kommt mit der Meininger Hofkapelle unter Philippe Bach und zeigt beim einmaligen Gastspiel, was möglich ist mit überschaubarem Budget.
Aufführung: 4. Juni im Stadttheater Fürth.

GASTSPIEL   Der Humor des Boulevardtheaters mag inzwischen an diverse TV-Formate übergegangen sein, aber manchmal gibt es eben Rückkopplung. Florian Battermanns Lustspiel DER MUTTERSOHN wird nach Runden in Hannover und Braunschweig für die Tournee jedenfalls damit beworben, dass Hauptdarstellerin Tanja Schumann als Braut mit Ehemann-Double nicht nur bereits hundert ausverkaufte Vorstellungen hinter sich hat, sondern auch nachweisbare Lacherfolge im „Dschungelcamp“.
Aufführungen: 6. und 7. Juni im Stadttheater Fürth.

STADTTHEATER FÜRTH
Königstr. 116, Fürth
stadttheater.fuerth.de




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