Tibors Kopfkino #09

MITTWOCH, 8. MAI 2019

#Film, #Kino, #Kolumne, #Tibor Baumann

Der Nürnberger Regisseur und Autor Tibor Baumann sammelt was ihm begegnet und lässt los, was sich festhält - und schreibt für uns über das, worüber er am liebsten nachdenkt: wo die Bilder bleiben, wenn der Film vorbei ist und welchen Film er behalten soll. Also, staubt die VHS ab und schmeisst den neuesten Stream an, bevor ihr ins Kino geht. Denn alles vergeht, selbst das Zelluloid. Und daher heute im Programm: 

ÄRA, WEM ÄRA GEBÜHRT, ODER: AM ENDE BLEIBT IMMER ETWAS

Bela und ich sitzen in heillosem Chaos, zwischen alten VHS-Kasetten und DVDs, Laserdiscs und Video-8-Bändern, die aufgetürmt einer scheinbaren Ordnung folgen. Die Computer geben dieses schnaufende Rauschen von sich. Die Videorecorder, verbunden mit den Geräten, sehen wie Opfer eines verrückten Wissenschaftlers aus – schon mal THE REANIMATOR gesehen? Genau …

Es stapeln sich Klassiker von DAS SIEBTE SIEGEL bis MILDRED PIERCE über COUNT BLACKULA; daneben türmen sich die Action-Stars. Dolph und Van Damme schwitzen um die Wette, Sly verzerrt das Gesicht, Arnie passt nicht in den Frame, so breit ist er. Gleich daneben, handbeschriftet, Aufnahmen aus dem Late-Night-Fernsehen: BARB WIRE, die verstümmelte Fassung von FROM DUSK TILL DAWN, eine seltene, undigitale STAR WARS (die echten!) Trilogie. Scorsese neben Brian de Palma, Fatih Akin auf Kurosawa, Steven Spielberg unter Heinz Rühmann, Serienboxen von AKTE X, EINE SCHRECKLICH NETTE FAMILIE bis EIN KÄFIG VOLLER HELDEN … Die Liste könnte ewig so weiter gehen. Jeder Videothekar würde hier einem archivarischen Orgasmus erliegen. 

„Legst du die mal zu den Fertigen?“ Bela reicht mir eine VHS. Ich habe den Überblick verloren. Hätte ich gewusst, was auf mich zukommt, als Bela mich fragte, ob ich ihm helfen würde, seine Filmsammlung zu digitalisieren! Frühjahrsputz machen, die Sammlung nur noch auf Festplatte behalten. Hätte ich das hier geahnt … ich hätte den nächsten Flug nach CASABLANCA gebucht. 

„Das ist doch totaler Quatsch, was wir hier machen,“ regt sich Widerstand in mir. 

Bela sieht mich nur an. Ich ignoriere ihn und suche weiter den Stapel der Fertigen – vielleicht bei KIDS und HEY DUDE, WHERE IS MY CAR? „Ich hab ja auch dieses nostalgische Gefühl. Ich kann mich noch erinnern, als ich das erste Mal mit meiner Mama in einer Videothek war. Es gab plötzlich ein zweites Kino. Oh, und in unserer ersten WG, da gab es über die Straße eine kleine Videothek. Der Typ, dem sie gehörte, hat den ganzen Tag Filme geguckt und geraucht. Man konnte stundenlang bei ihm stöbern.“ Nostalgie verklebt mir das Hirn wie Honig. „Aber es ist vorbei, diese Videotheken gibt es nicht mehr. Es gibt in Nbg überhaupt keine mehr. Und wozu auch?“ Ich wedle mit der Videokassette und lege sie auf den Stapel zu BRAINSCAN. „Die Filme kannst du dir alle auf einer Plattform entweder streamen, oder kaufen und runterladen. Alles ist im Netz. Und der Rest kommt ins Kino. Oder im Fernsehen, ich meine Mediathek … also vielleicht auch Anbieter-
exklusiv … Man, ist das kompliziert.“

Bela schüttelt den Kopf, zündet sich lässig eine Kippe an.

„Unrecht du hast,“ sagt er und greift sich die VHS, „und das ist der falsche Stapel. Die hier kommt auf den Stapel, die wir digitalisiert haben und die Kassette aufheben.“

Ich sehe ihn entgeistert an. Er reicht mir die Videokassette. Meine Augen weiten sich, als ich den auf den Aufkleber mit Kuli geschriebenen Titel entdecke: NIRVANA – DIE ZUKUNFT IST EIN SPIEL.

„Das, das ist ja … ha …,“ stammle ich. „Weißt du, wie lange ich den schon suche?“

Bela nickt nur. 

Auf diesem Magnetband, mit vom Ansehen verfälschten Farben, ein wenig körnig, ist dieser Film drauf ist, den man einfach nirgends im Originalton bekommt. Aber verdammt, im Fernsehen lief damals auch nix im OT.

„Wollen wir ins Kino?“

Bela grinst: „Klar.“

Wir fahren die Rechner herunter, lassen die alte Ära zurück und gehen dahin, wo es am schönsten ist. Und egal, was die Unken so Quaken: nichts wird das Kino obsolet machen. Es wird sich verändern. Aber das tun die Farben auf den alten VHS auch. 

Von A wie „alte Aufnahme“ bis Z wie „zackig neu“ – Kino sagt, wer sieht, der bleibt:

Mit STAN & OLLIE (R: Jon S. Baird, KS: 09.05.) kommt die erste biographisch-filmische Huldigung an die beiden Improvisationskomiker. Die Meister des Slapstick sind ein hervorragendes Beispiel, dass sich Kino verändert – und das Gleiche von ihren MacherInnen verlangt. Ob das als Dramatisierung funktioniert, werden wir sehen. 

Dramatisch und spannend verspricht der Film von Philipp Leinemann zu werden. Mit DAS ENDE DER WAHRHEIT (KS: 09.05.) kommt ein deutscher Spionage-Thriller in die Kinos, der verspricht, sich mit den großen Erzählungen messen zu können. Und dabei aktuelle Themen zu verhandeln.

Aktuell und problematisch widmet sich Sherry Hormann in ihrem auf der Berlinale veröffentlichten NUR EINE FRAU, dem Schicksal einer Deutschen mit Türkisch-Kurdischen Wurzeln, die versucht den Traditionen und dem Zorn der sich verraten fühlenden Familie zu entkommen (KS: 09.05.). Das sieht vielversprechend aus, muss aber beweisen, ob sie den Klischees entkommen kann. 

Entkommen möchte man auch, wenn man den Trailer von KLEINE GERMANEN (KS: 09.05.19) sieht – und zwar dem Irrsinn, der da porträtiert wird. Mohammad Farokhmanesh und Frank Geiger entblättern Ideologie und Struktur der neuen Rechten, die sich als „Volksparteien“ mittlerweile in unsere gesellschaftliche Mitte verlagert haben. Das ist erschreckend und wichtig darüber zu sprechen. Die Hoffnung ist, dass hier auch noch mehr entstehen kann als Angst. 

Etwas Neues entsteht im Film – wie überall – nicht immer. Und wenn es passiert, so sind das oft Perlen, die man suchen muss: Regisseurin Claire Denis wagt sich auf internationales Parket und liefert einen ungewöhnlich und jetzt schon weite Kreise ziehenden Science-Fiction-Film, der mehr menschliche Themen und den Zerfall von Raum, Zeit und Person erforscht, als sich Konventionen zu beugen: HIGH LIFE (KS: 30.05).

Abseits der Kinostarts ist aber auch sonst einiges auf den Leinwänden Nürnbergs geboten:

Vom 30.05. bis 09.06. (außer am 7.6.) stellt das Mobile Kino seine Leinwand im Innenhof des Tucherschlösschens auf. Da kommt bei den MITTELMEER FILMTAGEN Frühlingsgefühl und Sommerhitze auf. Die Filme aus und um den Mittelmeerraum flimmern für euch wie gewohnt ab Dunkelheit über die Leinwand und entführen mit Sonnengelb und Azurblau.

Kulturellen und filmischen Austausch gibt es bei der 14. Ausgabe der POLNISCHEN FILMWOCHE vom 2. bis 8. Mai. Im CineCitta werden unterschiedlichste Werke aus Polen gezeigt, diskutiert und mit Gästen besprochen. Zu den offiziellen Filmfestivals der Stadt Nürnberg gehörend, gibt es hier die Möglichkeit, eine spannende, filmische Kultur zu erkunden. Nachbarn sollten sich kennen, damit sie sich schätzen können!

Irgendwie auch politisch, mit Arthaus-Punk-Attitüde, beschenkt uns das Casablanca Filmkunstkino vom 11. und 12. Mai. Die FAHRRADFILMTAGE sind eine Verbeugung vor dem titelgebenden Vehikel – und finden hierzu allerlei spannendes Filmmaterial mit, über und durch. Das steht der (angeblichen) Fahrradstadt Nürnberg ganz gut und ist ebenso unterhaltsam wie informativ. Da freut sich der CURT, Medienpartner sein zu dürfen! (Schleimauftrag ausgeführt;)

Und worüber sich der CURT auch freut, ist natürlich die Lust am (plumpen?) Attraktionskino: Im Cine Star in Erlangen wird bei der ACTION HEROES PREVIEW ein explodierender Streifen vor Kinostart gezeigt. CURT verlost Tickets für die Vorstellung von JOHN WICK 3 am 22. Mai (E-Mail mit dem Betreff “John Wick 3” an Diese E-Mail Adresse ist gegen Spam Bots geschützt, du musst Javascript aktivieren, damit du sie sehen kannst senden und Daumen dürcken. Einsendeschluß ist der 19. Mai). Ob er wohl wieder alle wegen des kleinen Hundes tötet? 

Wer nun aber genug draußen und unterwegs war und ein Stück besonderen (Heavy) Film auf DVD sucht, dem sei LORDS OF CHAOS empfohlen. Jonas Akerlund inszeniert treffsicher mit einem tollen Rory Culkin (ich verkneife mir alle Kevin-Sprüche) die Ereignisse rund um die Entwicklung der Band Mayhem und der Death-Metal-Szene in Norwegen, bis zu der populären Ermordung von Euronymus durch Varg Vikernes. Dabei gelingt ihm das Porträt einer Jugendszene, die in ihrer eigenen Show-Logik gefangen immer weiter gehen muss und die Grenzen zwischen dem Extremen, Kranken oder Krankwerdenden und der Suche nach Halt und Zugehörigkeit verwischt. Dabei gelingt dem Musikvideo-Maestro (Metallica, Rammstein, Ozzy Osborne, Queens of the Stone Age uvm.) der Spagat: sowohl die Tragik der Überbietungsspirale, die Skurilität der verdrehten Weltsicht, als auch die Komik, wenn sich Jungs anmalen und sich im Keller zu böser Musik zum Handbangen zu treffen, kann Akerlund unaufgeregt inszenieren. Ohne sich dabei lustig zu machen. Vor der Problematik der Anbindung an die rechten Szene scheut er sich ein bisschen, insgesamt gelingt ihm aber ein gutes Porträt eines Mikrokosmos out of controle – nicht nur für Musikfans (erschienen bei Studio Hamburg).

Und jetzt mal Spaß bei Seite: Falls irgendwer da draußen eine DVD mit englischem Originalton von NIRVANA (1997, R: Gabriele Salvatores) hat, der hat die Chance, einen kleinen Filmemacher und Schreiberling sehr glücklich zu machen! …

www.tiborbaumann.de
 




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