Andreas Radlmaier im Gespräch mit: Helwig Arenz

MITTWOCH, 3. APRIL 2019



Wir treffen uns im „Palais Schaumburg“, der Gostenhofer Kneipenlegende, auf halbem Wege zum Gostner Hoftheater, der Urzelle von Nürnbergs Off-Theater-Szene. Gerade hat Helwig Arenz dort als Regisseur die Uraufführung seines preisgekrönten Stücks „Caligula“ inszeniert, jetzt probt er als Schauspieler dort die Labiche-Komödie „Die Affäre Rue de Lourcine“, die am 3. April Premiere hat. Autor (mit staatlicher Auszeichnung) ist der 37-Jährige auch noch. Wie seine Geschwister Sigrun und Ewald. Ein Gespräch über Eltern-Sex, die Liebe zum Bösen und Großfamilien.

ANDREAS RADLMAIER: Um gleich mit der Tür in die Neurose zu fallen: Musstest du deinen Eltern beim Sex zusehen?
HELWIG ARENZ: Haha, nein, das musste ich nicht.

Ich frage deshalb, weil dieses Motiv in der jüngsten Uraufführung deines Dramas „Caligula und das Mädchen auf der Treppe“ im Gostner Hoftheater auftaucht.
Das Motiv kommt auch im Roman „Der böse Nik“ auf die ein oder andere Weise vor. Da geht’s eher um Positionen in der Familie. Wo steht der Vater, wo steht die Mutter, stehen die alle da richtig? Im Stück habe ich das dann auf die Spitze getrieben.

Also nochmals zum psychischen Allgemeinzustand: Muss man pubertäre Traumata bei Helwig Arenz vermuten?
Nee, überhaupt nicht. Ich bin relativ frei und gut aufgewachsen. Da braucht man keine Traumata. Es passiert alles subtil.

Könnte ja sein als jüngstes von sieben Geschwistern …?
Naja, ein Bruder starb, da war ich 16. Insofern muss man das Verarbeiten dieses Todes sicher als Trauma bewerten. Ansonsten waren es eher die normalen Probleme. Was vielleicht auch einen Bezug zu „Caligula“ hat, ist, dass ich einerseits in einem freigeistigen Haushalt aufwuchs, über Sex allerdings nie geredet wurde.

Das Thema wurde ausgeklammert?
Ja. Zumindest vor mir.

Sieben Kinder – sowas kennt der deutsche Normalo heutzutage ja nur aus Erzählungen aus einer Zeit, wo es kein Fernsehen und Smartphone gab. Oder, um es satirisch überspitzt zu formulieren, aus dem Unterschichtenfernsehen.
Stimmt.

Wer hat euch Arenz-Kindern die Nähe zur Kultur eingeimpft?
Mutter und Vater. Und dann selbstverständlich die älteren Geschwister. Ewald natürlich.

Das ist der Autor Ewald Arenz. Wie viel älter als du ist er?
Fünzehneinhalb Jahre. Mutter hat künstlerische Gene, Anlagen mitgebracht. Und Vater …

Er war Kirchenmann, oder?
Ja, Pfarrer. Er stand für geistige, intellektuelle Beschäftigung. Und das war eine ganz gute Mischung. Kein intellektueller Haushalt, aber ...

... ein liberaler?
Eine Mischung aus bürgerlich-konservativ und liberal.

Was hat die Familiensituation mit dir gemacht?
Als Letzter hatte ich das Gefühl, mich schon manchmal durchkämpfen zu müssen, gerade wenn man nicht weiß, welche künstlerische Richtung man einschlagen soll.

Eine künstlerische Ausrichtung stand also schon früh fest?
Jaaa, obwohl ich nicht explizit diesen Berufswunsch hatte. Ich hatte gedacht, ich werde Lehrer.

Ah, wie andere Arenz-Geschwister.
Ja, ich weiß nicht, woher das kommt.

Hast du unter großen Brüdern, großer Schwester gelitten oder von deren Pionierarbeit profitiert?
Ich habe davon profitiert. Ohne es zu wissen. Das weiß ich nur aus Erzählungen von Ewald. Die Großen haben die Vorarbeit geleistet, und ich hatte dann mehr Freiheit. Eltern sind ja anfangs ambitioniert, was den Erziehungsauftrag angeht. Dieser Anspruch schleift sich ein wenig ab. Und dann hat man mehr Narrenfreiheit. Die hatten wir. Es gab gewisse Regeln, moralische Regeln, nicht lügen usw., das wurde sehr hochgehalten. Aber andere Grenzen wie: Ihr müsst jeden Sonntag in meinen Gottesdienst kommen, oder: Ihr seid um sechs Uhr zuhause – das gab’s nicht.

Warst du aufgrund der Rangfolge frühreif?
Überhaupt nicht. Ich glaube, wir wirkten aufgrund dieser Großfamiliensituation nicht ganz normal.

Für wen? Die Außenwelt?
In der Schule zum Beispiel. Da hatten wir es teilweise schwerer, uns einzufinden, ich zumindest. Bei den anderen Geschwistern weiß ich es nicht. In der Familie war ich behütet und beschützt, beim Rest musste ich relativ viel selber herausfinden. Im „Caligula“ ist das ja ein schreckliches Aufklärungsgespräch. Ich weiß nicht, was besser gewesen wäre. Peinliche Situationen, die sich einbrennen, gibt’s dennoch immer.

Ist „Caligula“ dann das Abarbeiten der Familiengeschichte?
Nein. Da geht’s eher um Grundstrukturen, Grunderfahrungen. Wie wird kommuniziert über Sachen, über die normalerweise nicht gesprochen wird, wie wird mit Gefühlen umgegangen.

Du hast eine abgeschlossene Schauspieler-Ausbildung in Linz hinter dir. 2006 warst du damit fertig. Dann folgten sechs Theater-Stationen zwischen Wilhelmshaven und Memmingen, Hamburg und Nürnberg, beim Theater Pfütze. Wirst du schnell unruhig oder bist du schnell unzufrieden?
Ich bin ungeduldig, mir wird schnell langweilig, ich bin tendenziell oft  unzufrieden. Wird mir vorgeworfen. Das lag aber daran, dass ich als Weisungsempfänger Theater gespielt habe. Sobald ich angefangen habe, Träume zu verwirklichen oder anderen Talenten zu folgen, wie dem professionellen Schreiben und der Verwirklichung eigener Projekte, was ich ja erst hier 2013 begonnen habe, wurde ich sehr viel zufriedener mit meiner Situation. Bei mir gab es eine gewisse Unruhe, weil ich mich in Festengagements nicht so wohl fühle. Obwohl ich den Ensemble-Geist sehr mag, was ja wieder einer Familie ähnlich ist.

Welchen Hauptvorteil hat denn dann das Freie für dich?
Dass ich Theaterprojekte wie „Caligula“ anleiern kann. Im Festengagement ist nicht groß Zeit, Romane zu schreiben, ich kann mich zum Beispiel auch nicht für ein Stipendium bewerben.

Warum bist du überhaupt nach Nürnberg zurückgekehrt?
Ja, warum? Gute Frage. Ganz lang konnte ich mir das überhaupt nicht vorstellen. Anlass war erst ein Gastengagement am Stadttheater Fürth und dann das Engagement am Theater Pfütze. Ich habe mich schon gefreut, näher bei der Familie zu sein. Über meine damalige Freundin habe ich auch ganz andere Kreise kennengelernt als in der Schule. Das war dann viel spannender für mich.

Und wie fühlst sich Nürnberg an?
Erst war ich ja in Fürth.

Oha!
Da habe ich mich sehr wohl gefühlt. In Nürnberg lebe ich jetzt seit einem dreiviertel Jahr, in der Nordstadt. Es fühlt sich etwas ungewohnt an, es fehlt der Wiesengrund. Ansonsten habe ich weder Fürth- noch Nürnberg-Dünkel, das Einzige ist: Ich sehne mich etwas aufs Land. Mehr Ruhe, Motorsägen ab 6, Hähne und Hunde.

Kann man vernünftigen Menschen das Berufsmodell Schauspielerei vorbehaltlos empfehlen?
Nee, einem ganz vernünftigen nicht. Es ist schwierig hinsichtlich Auskommen, die Arbeitszeiten sind nicht einfach. In diesem Beruf etwa auch mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und Freundschaften zu pflegen. Teilweise ist man natürlich auch sehr privilegiert. Das ist beides. So begegnet man sehr vielen frustrierten Schauspielern.

Warum bist du dann letztendlich auf der Bühne gelandet?
Völlig intuitiv. Ich hatte wenig Pläne, wenig Ahnung, was ich werden will. Deshalb wohl auch der Lehrer-Gedanke, als Fortsetzung der Leistungskurse Deutsch und Französisch. Dann habe ich mal in einer alten Zeitung ein Foto des – längst verstorbenen – englischen Schauspielers John Gielgud, in jungen Jahren, gut aussehend, entdeckt und mir gedacht: Ich werde Schauspieler. Ich habe mich dann aber innerlich dazu treiben lassen. In der Ausbildung war ich auch völlig verunsichert, hatte immer auch den Wunsch, „nur“ zu schreiben, mich mehr in eine geschützte Welt zurückzuziehen. Schauspielerei ist ja das Gegenteil, du wirst mit allem Möglichen konfrontiert, auch mit fremden Städten.

Parallel dazu hast du andere Interessen vorangetrieben – als Regisseur und Autor. Gibt es in diesem Dreiklang einen Favoriten?
Nee. Ich spiele gerne, habe damit aber immer wieder meine liebe Not.

Zweifelst du an deinen Fähigkeiten?
Nein. Ich habe eher manchmal Schwierigkeiten, mich in Strukturen einzufügen. Aber eigentlich will ich alles machen: Spielen, schreiben, inszenieren.

Als Autor bewegst du dich auch im reichlich abgewetzten Sujet des Krimis. Wieso das denn?
In der Regel sind das Auftragsarbeiten.

Das kommt gar nicht aus dir heraus?
Aus mir kommen eher Liebes- und Beziehungsgeschichten heraus.

Gerne auch verkorkste, oder?
Sehr gerne. Oder Milieustudien und Halbwelt-Szenarien. Natürlich mag ich menschliche Abgründe. Und dann gibt es die Form des Krimis, die man möglichst gut füllen muss. Aber ich muss mich immer daran abarbeiten: am logischen Denken, an der kriminellen Energie und Phantasie.

Wie ist es denn deiner Meinung nach um die heimische, also Nürnberger Literaturszene bestellt?
Da passiert einiges. Es ist – bedingt – Interesse an künstlerisch Hochwertigem vorhanden, wie überall.

Du hast im letzten Jahr einen Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur bekommen. Hat solch eine Auszeichnung eine sofort zählbare Wirkung zur Folge?
Naja, die Auszeichnung ist ja mit einem Geldpreis verbunden.

Okay, aber melden sich darauf Veranstalter und Agenten?
Das tun sie nicht. Der „Kaas und Kappes“-Autorenpreis, den ich im Februar 2018 für „Caligula“ bekommen habe, hatte allerdings seine Wirkung, mit mehr Kontakten als beim Bayerischen Kunstförderpreis.

Erstaunlich ist ja, dass es dich ja wie Bruder Ewald und Schwester Sigrun auch zum Schreiben drängt. Wie kommt es zu so einem innerfamiliären Wettbewerb?
Eine Teilerklärung ist sicherlich der kulturell interessierte Haushalt, in dem wir aufgewachsen sind. Literatur wurde hochgehalten, es wurde vorgelesen und viel gelesen.

Klassiker oder Micky Maus?
Micky Maus durften wir nicht lesen, das war verpönt. Asterix dagegen war im Kanon drin. Ansonsten war „Herr der Ringe“ ganz weit oben, gleich nach der Bibel. Amerikaner durchs Studium. Viel Fantasy, die Affinität zu Klassikern wie Jane Austen, und zu norddeutscher Literatur, die unsere Mutter mochte, war schon da.

Liest du auch gerne?
Ja, manchmal allerdings nur phasenweise. Ich mag sehr gerne gute Unterhaltungsliteratur.

Zum Beispiel?
Jonathan Franzen, T.C. Boyle, Ian McEwan. Das sind alles Leute, die gut erzählen und nicht große Kunstkonzepte auffahren. Das finde ich schön.

Welchen Thrill bietet eine Regie, die das Schreiben eines Buches oder das Spielen nicht leistet?
Wenn ein eigener Text mit den Ideen, die man dazu hat, funktioniert, ist das extrem befriedigend. Da kann man die eigenen Verrücktheiten ausloten. Ansonsten hat man viel mehr Einfluss auf das, was auf der Bühne passiert. Als Schauspieler ist man ja sehr abhängig vom Stil des Regisseurs.

Und welche Rolle möchtest du unbedingt noch spielen?
Unbedingt was Klassisches, weil das in der freien Szene sehr gerne zu kurz kommt. Und ich möchte sehr gerne Schiller-Texte spielen. Keine speziellen Rolle, aber eher die Bösen.

Also nicht Franz Moor.
Lieber Karl Moor. Oder Shakespeare. Ich habe ein Faible für die Sprache und da selber so wenig gespielt. Es sind ja auch ganz tolle Geschichten.

Du spielst auch in der nächsten Gostner-Produktion mit, der Komödie „Die Affäre Rue de Lourcine“ von Eugène Labiche, die am 3. April Premiere hat. Das ist eine aberwitzige Groteske rund um Absturz und Verschleierung. Das müsste also durchaus deinem Humor entsprechen.
Beim Lesen ist es auch ein bisschen platt und lapidar hingeschrieben, bedient teilweise auch einen spießigen, etwas schalen Humor. Da muss man jedenfalls etwas draus machen. Das tun wir auch. Dieser schräge Ansatz gefällt mir gut.

Die Ironie ist bei den Arenz-Geschwistern Kommunikationsbasis, oder?
I
ch glaube schon. Das kommt einfach durch die Erziehung. Das hat uns alle geprägt.

Bist du boshaft?
Gerne.

Wie ist diese Welt deiner Meinung nach am besten auszuhalten?
Das versuche ich herauszufinden. Indem man sich klarmacht, dass man auf einem untergehenden Schiff auch singen, tanzen und essen kann. Indem man versucht, die ganzen negativen Meldungen, die auf einen einströmen, zu ignorieren und sich auf sein kleines Umfeld zu konzentrieren. Persönlich brauche ich Abschirmung davon, mal mehr, mal weniger. Je mehr ich dabei die Zeit vergehen lasse, nicht vorwärts hetze, entschleunige und zu mir komme und in der Gegenwart bin, umso besser geht es mir.
 
Welchen Vorteil hat Entschleunigung?
Je mehr ich im Jetzt, in der Gegenwart lebe und die Bedrohung der Zukunft ausblende, umso besser. Der Schreibprozess ist da ein gutes Beispiel. Da bin ich viel mehr bei mir, viel ruhiger und gelassener. Das hat vielleicht auch mit einer glücklichen Betätigung zu tun. Die ist mir total wichtig, da blendet man das Unwichtige leichter aus.

Also doch die Sehnsucht nach der kleinen Welt?
Ja, schon.

Nach der Gostner-Premiere gibt’s eine weitere, nicht ganz unwichtige: Du wirst Ende Mai zum zweiten Mal Vater. Ist das dein Weg in die Großfamilie?
Ich mag Großfamilie sehr gerne, weil man dann im Alter jemand hat, der sich um einen kümmert. Ob ich persönlich das Ziel Großfamilie noch schaffe, wage ich allerdings nicht vorherzusagen.


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FOTOS: In Kooperation mit der AKADEMIE DER BILDENDEN KÜNSTE NÜRNBERG erstellen seit der Ausgabe Februar 2019 Studierende der Fachklasse für Photographie die Bilderstrecke zur monatlichen Interviewserie von Andreas Radlmaier. Die Fotos zu diesem Interview kommen von KIRA KRÜGER.

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HELWIG ARENZ (37), Schauspieler, Autor, Regisseur, kam als sechstes Kind der Künstlerfamilie Arenz in Nürnberg zur Welt. Nach dem Abitur am humanistischen Gymnasium in Fürth studierte er erst Deutsch und Französisch, entdeckte die Theaterbühne für sich und absolvierte nach einem Intermezzo in Köln eine Schauspielausbildung an der Bruckner-Universität in Linz. Nach Theaterstationen in Wilhelmshaven, Hamburg, Memmingen und Hof kehrte er 2013 nach Nürnberg zurück, war Ensemblemitglied im Kindertheater Pfütze und in Produktionen der Tafelhalle, des Stadttheaters Fürth und des Gostner Hoftheaters zu sehen. Dort feierte sein gelobtes Jugenddrama „Caligula und das Mädchen auf der Treppe“ im Februar Uraufführung. Das wird zum licht.blicke-Festival im Oktober wieder aufgenommen. Für das Stück erhielt er 2018 den niederländisch-deutschen Jungdramatikerpreis „Kaas und Kappes“. Im gleichen Jahr zeichnete ihn der Freistaat mit dem Bayerischen Kunstförderpreis aus. Helwig Arenz spielt, schreibt und lebt (mit der Schauspielerin Christin Wehner) in Nürnberg.

ANDREAS RADLMAIER ist als Leiter des Projektbüros im Nürnberger Kulturreferat verantwortlich für das Bardentreffen, Klassik Open Air, Stars im Luitpoldhain, sowie für die Entwicklung neuer Formate wie Silvestival, Criminale und Boulevard Babel  – Formate, die curt journalistisch begleitet. Andreas ist seit über 30 Jahren in und für die Kulturszene tätig.
Studium der Altphilologie, Englisch, Geschichte. Bis 2010 in verantwortlicher Position in der Kulturredaktion der Abendzeitung Nürnberg. 2003: Kulturpreis der Stadt Nürnberg für kulturjournalistische Arbeit und Mitarbeit an zahlreichen Publikationen.




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