Tibors Kopfkino #04
#Film, #Kino, #Kolumne, #Tibor Baumann
Der Nürnberger Regisseur und Autor Tibor Baumann hat sich zwischen den Gästen in Berlin versteckt – und schreibt für uns, worüber er am liebsten nachdenkt: wie das eine Bild zum anderen gehört. Ein Universum in seinem Kopf. Vom kleinen Frame, der uns das Herz mit der Schönheit erwärmt bis zur grausigen Montage, die das starre Auge mit dem Strudel des Abfluss vereint – und heute im Programm:
DIE BILDER VEREINEN UNS!
ODER: RÜCKHANDKOMPLIMENT FÜR UNTERSCHÄTZTE UND DEREN BEHINDERTE FREUNDE
Das Licht wird schummrig, was die Gespräche zu einem Flüstern dämpft. Der Vorhang rollt neckisch glitzernd zur Seite und ist so auf ganz eigene Weise im Stande „TADA!“ zu machen. Das bringt auch die letzten Schwätzer zum Schweigen. („Mach’n Schnobel zu, a Bäggler Schälln’ is fei glei aufgmacht!“ – Unbekannter fränkischer Kinobesucher meines Herzens: tiefe Verehrung!)
Okay, jetzt ist kurz Zeit, kurz bevor die ersten Bilder durch den dunklen Raum als Lichtstrahl zum Fenster in andere Welten und in uns selbst werden – wir müssen reden. Muss Euch noch schnell eine komplizierte Geschichte erzählen; quasi ein Vorfilm. Los geht´s:
Die Geschichte fand auch hier, im Kinosaal statt, aber zu einem anderen Zeitpunkt, ein anderes Universum. Ich setzte mich auf meinen Platz, meinen Hut neben mir, mein Getränk dem metallenen Halter übergeben, mein Notizbuch auf meinen Schoß. Bereit!
„Sind sie Kritiker?“, sagte eine neugierige Stimme.
„Kritisch ja, Kritiker: ganz und gar nicht.“, sagte ich zu der Dame im Halbdunkel.
„Ah, ich dachte Sie zerreißen Filme.“, wies sie auf mein Notizbuch.
„Nur privat. Ich schreibe Filme; auch über sie, da aber als Kolumne, als Geschichte und Kommentar und Ausblick.“
Irritierte Stille als Antwort. Und weil der Film begann, keine Möglichkeit, das näher zu erklären.
Also erkläre ich es eben hier. Oder in meinen Notizen. Damals – oder heute, irgendwie gehört das zusammen. Ein Durcheinander wie in den Zeitlinien von Ridley Scots ALIEN-Saga. Aber egal, ob Zeitschleife à la PLANET DER AFFEN, oder einfach nur vergessliches MEMENTO – ich schreibe für Euch ja die Geschichten rund um das Kino. Daher schreibe ich nicht:
„HE WON’T GET FAR ON FOOD ist eine emotionale Perle über John Callahan, den genialen Cartoonisten und Alkoholiker in umgekehrter Reihenfolge (googelt diesen Typen!). Ein kleines Plädoyer für das Leben, in dem wir einem brillanten Joaquin Phoenix zusehen dürfen, der sich, trotz unaufgeregten Spiels, ganz natürlich seines präzisen und absolut organischen Könnens bedient.
Während sich Gus van Sants Cinematographie manchmal etwas monoton an das eigene Konzept hält, das zwar seine Figur brillant repräsentiert, aber dennoch nicht ausreicht, um filmisch konsistent zu sein, kann man auch einen großartigen Jonah Hill erleben. Der muss, seit er abgenommen hat, ständig hören, dass er jetzt so toll aussieht – und weiß, dass das bedeutet, dass ihn vorher alle fett und dumm fanden. Um so passender, dass er sich nun mit seinem Regiedebut seinen Lebens-traum erfüllen kann: in MID90s ist der 13jährige Stevie im „age before the boys become dicks“ – wie ein Mädchen so lakonisch bemerkt –, tut, im passenden Filmformat, was man in den 90ern so tat: Skateboard fahren, heimlich beim großen Bruder Nintendo spielen, versuchen, cool zu sein, erkennen, dass das Leben hart ist und in die erste wilde Knutschrei stolpern. Und alles ohne Nostalgieporno. Das lässt auf Dt.-Verleih hoffen, so dass sich Hills wertvolles Regiedebut mit van Sants Film im Kino vereinen kann – denn es gibt einen heimliche Verbindung zwischen den beiden!“
Und weil das #tiborskopfkino ist, kann ich das Universum, in dem ich sitze, und das andere, in dem ich die Zeilen da oben geschrieben habe, einfach verbinden, Euch die Verbindung zwischen dem unterschätzen Behinderten und seinen kleinen Freunden verraten: ich bewundere Phoenix und denke über die Kameraführung kritisch, aber nicht als Krititker, und da (Vorsicht: Spoiler!) rumpelt der an den Rollstuhl gefesselte in eine Gruppe Kids, die auf dem Skateboard zu kleinen Rettern werden, und sich seiner Cartoons mit Offenheit widmen. Ich schnappe tonlos wie ein Fisch an Land mit dem Mund um den Filmton nicht zu unterbrechen: das ist Stevie, der Held aus MID90s, und seine Gang. Sie kommen sogar noch ein zweites Mal vor!
Wie hängt das alles zusammen? Ob sich beide Ideen gleichzeitig entwickelt haben und die Regie-Boys dachten: geil! Ein Universum - aber ohne Heros. Oder hat Hill die Jungs erst da gesehen und seine Idee traf ihn wie den Unfallgeplagten die Bordsteinkante? Oder umgekehrt! Van Sant sieht Hills Arbeit, und sagt: die brauch ich – und der Rest ist heimliche Filmgeschichte; und ein (Rückhand)Kompliment für den so lange so geschmähten Hill.
Das, liebe Freunde, ist Universe-Building auf höchstem Niveau – und so schön anzusehen wie ein Sonnenuntergang in den 90ern.
So, Ruhe jetzt – der Film geht los:
Von A wie allumfassende Filmreihe bis Z wie zusammenwachsende Dramaturgie – alles hängt zusammen.
Mit NUR EIN TAG IN BERLIN schafft es ein Film von der Boddinale (eine kleine Antiberlinale) in die Kinos (KS: 01.11.). Regisseur Malte Wirtz hat seinen Streifen mit ungewöhnlichem Format über zwei Freundinnen, die sich in Berlin für einen Tag wieder treffen und ihre Welt aus den Fugen heben, an nur einem Tag gedreht – und traut sich so, einige Experimente auszuloten.
Ebenfalls aus den Angeln ist die Welt im Schweizer Film BLUE MY MIND (KS: 01.11.). Wie Akiz’ wundervoller DER NACHTMAHR (2015) wird hier – wenn auch nicht ganz so lynchesk – das Coming-of-Age mit gruseligen Versatzstücken verbunden. Die Regisseurin Lisa Brühlmann ist damit aber trotzdem auf eigener Faust in ihrem cineastischen Universum des phantastischen Kinos unterwegs.
Ungewöhnliche Entwicklungen zeichnen sich auch für die Hauptfigur – der bezeichnenderweise Kameramann ist – des Machwerks von Ulrich Köhler ab. IN MY ROOM (KS: 08.11.) konfrontiert jenen Kameramann mit dem Verschwinden der Menschheit. Natürlich mit den üblichen Ausnahmen. Keine neue Prämisse – aber eine neue Wandlung, im deutschen Filmemacher-Universum mit solchen Arbeiten Gelder zur Arbeit zu erhalten! Mal sehen, was der Protagonist und der Filmemacher mit seiner ungewöhnlichen Freiheit mach(t)en. Für die NürnbergerInnen bringt das Casablanca in der Südstadt den Film auf die Leinwand.
Aber es sind nicht nur die feinen Details, sondern auch das große Ganze: Das hochkarätig besetzte Remake des remarkablen SUSPIRIA (R: Luca Guadagnino KS: 15.11. – Original von Dario Argento 1977) lässt keinen Zweifel offen, dass er sein eigenes Original gut findet. Da wird mit alten Methoden der 70er hantiert, dass es nur so wabert im mystischen Tanzenesemble rund um die Hauptfigur. Ob das funktioniert, kann man mit Spannung erwarten. Ebenfalls aus anderen Sphären beschert uns Rainer Warnet seinen Film NOVEMBER (KS: 29.11.), der mit brillierendem Schwarz-Weiß ein dörfliches Drama schräg und irgendwo zwischen phantastischen und gruseligem zu inszenieren weiß.
Und einer, der schon so manchen Filmfestivalbesucher die Flucht lehrte, erhebt sich diesen Herbst wieder: Lars von Trier gibt sich die Ehre und bringt mit THE HOUSE THAT JACKS BUILT einen Film in die Kinos, den man aufgrund der Kombination schon fürchten könnte – denn der Altmeister des (zeitweise dogmatischen) Arthouse lehrte uns schon mit der Tour de Force ANTICHRIST (2009), was im Drama an Angst so steckt. Doch nun ist sein Hauptprotagonist ein Serienmörder. Und wir können davon ausgehen, dass es in von Triers Welt nicht um das Ergreifen einer solchen Person geht, sondern um das Ergreifende am selbst gegebenen Sinn der eigenen (grausamen) Handlung. Ob das Sinn hat, muss er uns erst noch unter Beweis stellen, der Lump aus Kopenhagen.
NETFLIX lässt sich im November ebenfalls nicht lumpen und schickt die Halunken und Gauner der Cohen Brothers (ST: 16. November) in THE BALLAD OF BUSTER SCRUGGS auf Reise. Da wird wohl gewohnt lakonisch-reflexiv mit dem Erzählhandwerk und dem Western die Analogie auf den Westen abgedreht. Ein Mythos, der sich eben nach und nach demontieren lässt, bildet für sich selbst einen neuen.
Und gleich einen zweiten Mythos lässt der Internet-Film-Gigant los und setzt damit den Mel-Gibson-Mythos BRAVEHEART (1995) heimlich fort: epische wird in OUTLAW KING (R: David Mckenzie, ST: 9.November) quasi Wallace’ Nachfolger im Kampf gegen die britische Tyrannei inszeniert. Robert the Bruce, dargestellt von Chris Pines, setzt dem historischen Befreier der Deckenträger (ja, Decken, KEINE RÖCKE) ein brutales und emotional aufgeladenes Denkmal.
Aber um in andere Länder zu reisen, muss man nicht nach Flixnethausen fahren: am 28.11. startet das 5. CHINESICHEN FILMFESTIVAL 2018: CHINA OUTDOOR. Nie gehört? Weiterblättern, mehr erfahren - und zwei Welten miteinander verbinden!
Verbunden mit den einzelnen Frames, ineinander montiert, die Jahrzehnte, die Welten in Wünschen und Träumen, in den Fragen die uns umtreiben und natürlich: wenn wir gemeinsam schweigen, weil der Vorhang die Leinwand enthüllt.
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TIBOR BAUMANN
Der Nürnberger Regisseur und Autor ist in Imbissbudenland gestrandet - und schreibt für uns, worüber er am liebsten nachdenkt: entscheidende Bilder und bildende Entscheidungen. Alles in seinem Kopf. Und mit einem Herz, wie eine Filmrolle. Wer wählen muss, soll erst nach genauer Wahl Platz im (ja im!) besten Ort der Welt nehmen - Kinosessel!
#Film, #Kino, #Kolumne, #Tibor Baumann