Das Stück zum Film nach dem Buch hinter dem Musical

FREITAG, 5. OKTOBER 2018

#Dieter Stoll, #Film, #Kino, #Kultur, #Theater

Wie die Bühnen für ihre Neuinszenierungen immer mehr auf Raubzüge zwischen Bestsellerlisten und Cinematheken ausschwärmen.

Früher, also tief drinnen im vorigen Jahrtausend, gab es im gängigen Kulturleben vergleichsweise gut überschaubare, wenn auch meist kantenscharf getrennte  Sparten mit angekoppelten Ritualen. Man erwartete meinungsfreudig das nächste Buch (von Günter Grass, Heinrich Böll, Johannes Mario Simmel ….), den nächsten Kultfilm (von Stanley Kubrick, Louis Malle, Alfred Hitchcock …), das nächste provokante Theaterstück (von Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Thomas Bernhard …), die nächste deutsche Spätlese eines internationalen Musicals (von Leonard Bernstein, Andrew Lloyd Webber, und nochmal und nochmal Webber…), die nächste Franken-Komödie (von Fitzgerald Kusz, Helmut Haberkamm, von wem denn sonst!), manchmal sogar ein bisschen auf die nächste zeitgenössische Oper mit beschränkten Dissonanzen (von Hans-Werner Henze, Aribert Reimann, Benjamin Britten …). Aber bei der Suche nach unverfänglichen Gesprächsthemen im Familien- oder Freundeskreis und anderen bedrohlichen Runden, gerne auch nach Vorsortieren durch den Quartalsvorschlag im Buchclub Ihrer Zufallswahl, blieb die „umstrittene“ literarische Neuerscheinung lange Zeit das allgemein bevorzugte Basismaterial – und sei es nur, um der Partykonversation bei Detailfragen jederzeit den Notausgang der Selbstironie offen zu halten: „Ich warte auf die Verfilmung“. Die kam beileibe nicht immer, oft aber mit zehn Jahren Verspätung.

DER GANZ GROSSE ROMAN IM GANZ KLEINEN RAUM

Das ist, wenn man die aktuellen Theaterspielpläne 2018/19 und die langfristigen Verkaufslisten der Online-Buchhändler rundum im Vergleich betrachtet, inzwischen alles etwas anders. Statt Lichtspiel zum Buch dominiert eher das Bühnenstück zum Roman oder das neue Musical zum alten Film oder das frei schwebende Projekt zum verfügbaren Reiztitel. Wo man dereinst bei den Stücken in der Autorenzeile „von“ X oder Y schrieb, ist das Second-Hand-Drama „nach“ XY auf gleiche Höhe gerückt. Hier hat eine Stiefbruderschaft zwischen Gedrucktem und Gespieltem neue Dimensionen von Spontaneität erreicht, die kein Kinoproduzent dieser Welt je so schnell organisieren kann. Wie das Erlanger Theater Salman Ruhsdies „Golden House“ jetzt direkt aus der Abstiegszone der Bestsellerliste auf die Bühne umleitete, topfte man in Köln soeben Daniel Kehlmanns Eulenspiegelei „Tyll“ aus der Blüte der Top10 in die Biomasse der Liveszene um, im nahen Bamberg wird Juli Zehs „Leere Herzen“ von 2017 in Bewegung gesetzt  und Robert Menasses feingliedriger  Europa-Roman „Die Hauptstadt“ vom Vorjahr soll dieser Tage in Essen die Strapazen des flächigen Kulissenzaubers überstehen. Die Nachwelt wird reichlich bedient: In Gostenhof ist Wandertag nach Cervantes, in Fürth sind die „Känguru-Chroniken“ nach den Büchern von Marc-Uwe Kling ins große Haus aufgestiegen. Am Schauspielhaus ist für Januar „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ als Uraufführung in Vorbereitung, was laut FAZ „ein großer, kluger Roman“ ist, und der wird hier im kleinsten verfügbaren Studio-SpieIraum „3. Etage“ nach Drucksachenvorlage inszeniert. Alles immer im Wissen darum, dass bei der Übertragung von einem Medium ins andere selten mehr als Fragmente des Originals übrig bleiben (können). Ist das nun Stil oder Chuzpe?

MASSLOSIGKEIT GIBT ES BEI UNS NUR IN DER OPER

Aber das gilt ja für die andere weit verbreitete Schaukelbewegung des Theaters, die man inzwischen „das Stück nach dem Film“ nennen könnte, ebenso. Die aktuelle Saison bietet beispielsweise deutschlandweit Adaptionen von lebenden oder unsterblichen Kino-Größen wie Steven Spielberg (in Nürnberg), Luchino Visconti (in Berlin), Ingmar Bergman, Woody Allen, Michael Haneke, Luis Bunuel, Fatih Akin, aber auch der TV-Köstlichkeit „Der Tatortreiniger“, die sich kein vernünftiger Mensch ohne Bjarne Mädel vorstellen mag. Die Tendenz kann man offensiv als clevere Mehrwertschöpfung vertreten (auch mit dem Hinweis darauf, dass der abonnierte Bildungsbürger seit jeher den Weg zum Kino verweigerte, also cineastisch sowieso ahnungslos ist), oder verständnisheischend mit der Klage über den latenten Mangel an zeitgenössischen Dramatikern, die in der breiteren öffentlichen Meinung schon allein mit ihrem Namen fürs Einfädeln  großer Themen ins elastische Bühnenformat akzeptiert sind. Der Zuschauer, der unbesehen freudig auf neue Texte von Elfriede Jelinek oder Moritz Rinke setzt, ist ein rares Exemplar seiner Zunft. Das andere System, aus der Zerfetzung vorhandener Weltliteraturwerke, vorzugsweise tausendseitiger russischer, mit Unmengen von selbstgerührtem Assoziations-Gips neue babylonische Monumente aufzubauen, ist jenseits der anmaßenden Marathonprojekte von Wanderikone Frank Castorf (Berlin/Wien/Zürich/München/Stuttgart/Hamburg/Köln) wohl keine wirklich übernehmbare Lösung. War es bisher vor Ort sowieso nie, wo auch unter der neuen Intendanz und trotz Prokofjews hochgerecktem Kolossalformat „Krieg und Frieden“ die Maßlosigkeit wohl eine Domäne von Richard Wagner unter Opernnaturschutz bleiben wird. Die Vorstellung „Lohengrin“ im Frühjahr wird viereinhalb Stunden dauern, nächste Saison bei „Die Meistersinger von Nürnberg“ darf´s noch a bissl mehr sein.

WIE UNS DER NEUE NÜRNBERGER „HAUSAUTOR“ DIE WELTLAGE ERKLÄRT

Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger setzt nun bei der Fixierung der Eigendynamik auf den Hilfsbegriff „Hausautor“, der in Nürnberg vor Jahrzehnten immerhin für zwei Spielzeiten auf den heute 86-Jährigen, damals aus der DDR emigrierten Rolf Schneider mit überschaubarem Erfolg (der maulende Volker Spengler rezitierte „Joseph Fouché“) angewendet wurde und unausgesprochen auf acht Nürnberger Urauffürungen von Fitzgerald Kusz (zuerst „Schweig, Bub“, zuletzt „Lametta“) passt. Jetzt soll der 40-jährige Philipp Löhle, dessen erstes Stück KAUF-LAND im Jahr 2005 in Erlangen am Ende seines dortigen Studiums Uraufführung hatte, bitteschön „work in progress“ definieren, was das mit diesem Titel genauer bedeutet. Nämlich außer dauerhafter Präsenz im Spielplan (ab 15. November zeigt Gloger seine aus Hamburg mitgebrachte Inszenierung von Löhles „Das Ding“, er inszeniert für die Uraufführung am 8. März 2019 dessen neuen Thriller „Am Rand“ und lässt ihn jetzt am 12. Oktober mehrere Stockwerke an einem Abend überwinden – erst im Tiefgeschoss der Kammerspiele ein Selbstporträt mit Lesung und Gespräch, dann in der „3. Etage“ (früher: BlueBox) „Löhles Kommentar zur Wirklichkeit – Der Hausautor blickt in die Welt“. Womit manifestiert ist, dass hier ein Dramatiker als Autorität, wenn nicht gar Institution etabliert wird – vielleicht steckt im „Hausautor“ ja ein Haus-Elf. Er soll laut diskreter Zusatzinformation vom Richard-Wagner-Platz bereits jetzt „der weltweit meistgespielte deutsche Dramatiker seiner Generation“ sein, wie immer man so etwas messen mag. Fürs Nürnberger Publikum, das ihn trotz diverser Auszeichnungen bisher gar nicht kennt, ist er jedenfalls eine Entdeckung, und die geht aufs Haus.

DAS BESTSELLER-DUELL: TIMUR VERMES CONTRA THILO SARRAZIN

Um zum überwölbenden Ausgangspunkt „Literatur“ zurückzublenden: In diesen Wochen kann man an den Spitzen der aktuellen Bestsellerlisten von Belletristik + Sachbuch ein imaginäres Wettrennen um das Migrationsthema bestaunen: Der Ur-Nürnberger Journalist/Autor Timur Vermes (jetzt: München) contra Berlins längst plumpsend aus dem Rahmen gefallenen Ex-Senator Thilo Sarrazin; die kampflustige Polit- und Mediensatire „Die Hungrigen und die Satten“ mit einem durchaus auch stinkbombenartigen Feuerwerk aus Spott und Wut über die Verhältnisse, die „so“ sind, parallel in der Tabelle neben der öden Haudrauf-Polemik „Feindliche Übernahme“ des selbstgefällig fremdenfeindlichen Pseudo-Sachverständigen im Würge-Lamento der eigenen  Endlosschleifen-Schnatterei.

Der Auferstehungsbestseller „Er ist wieder da“ von Timur Vermes wurde, ehe der Film das Buch ein wenig zermatschte, auch an vielen kleinen Bühnen mit bescheidenen Mitteln „nach“ Vorlage ver-theatert.
In Nürnberg, wo der Erfinder dieser „Führer“-Fantasy mit rissiger Bodenhaftung manchmal immer noch mehr „derhamm“ als „dahoam“ ist, wollte das in den letzten Jahren keiner versuchen. Gut so! Beim zweiten, weitaus schärfer ätzenden Roman um eine gewisse Nadeche Hackenbusch, dieser fürs Challenge-Format „Engel im Elend“ aus dem wohltemperierten Heimatstudio in die Wüste stöckelnden Design-Moderatorin nach RTL-Schnittmuster, die sich zur Überraschung der eigenen Quote und ihrer angestöpselten Manager an die Spitze von 150.000 Fluchtbereiten zum „Ich hol euch hier raus“-Marsch nach Deutschland stellt, hat noch kein Zweitverwerter zugegriffen. Dabei wird der Leser förmlich überfallen vom medienkundigen Namedropping beim Schnittwechsel zwischen Migrantenmarsch, Boulevard-Halligalli und Politik-Zynismus. Ob man das, dem Hitler-Nachschlag  folgend, zusätzlich als Kammerspiel auf die Bühne bringen soll? Besser, viel besser wäre ein Seitenblick auf die Vermes-Dialoge, denn er könnte unter Theatermachern die Idee beflügeln, dass es etwas nachzugraben gäbe im vorhandenen Talent des grimmigen Journaille-Poeten. Kein Stück „nach“ wäre das Ziel, aber vielleicht das erste „von“ Timur Vermes. Er muss dafür ja nicht gleich „Hausautor“ werden.
 
[Text: Dieter Stoll]

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DIETER STOLL, Theaterkritiker und langjähriger Ressortleiter „Kultur“ bei der AZ.
Als Dieter Stoll nach 35 Jahren als Kulturressortleiter der Abendzeitung und Theater-Kritiker für alle Sparten in den Ruhestand ging, gab es die AZ noch. Seither schreibt er z.B. für Die Deutsche Bühne und ddb-online (Köln) sowie für nachtkritik.de (Berlin), sowie monatlich im Straßenkreuzer seinen Theatertipp. Aber am meisten dürfen wir uns über Dieter Stoll freuen. DANKE!
 




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