Zwischenfall im Plattenbau
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Die Möwe – Mit ihrer Tschechow-Inszenierung stellt sich Anne Lenk als neue Hausregisseurin am Staatstheater Nürnberg vor.
Es ist sozusagen „russisches Wochenende“ am Staatstheater Nürnberg. Einen Tag vor Prokofjews Tolstoi-Oper „Krieg und Frieden“, die als eine der kolossalsten und gleichzeitig unbekanntesten Werke der Musiktheater-Geschichte gelten darf, stand im Schauspielhaus mit „Die Möwe“ der populärste Titel aus dem Sortiment von Anton Tschechows melancholischen Komödien-Wundern auf dem Premieren-Plan. Als Konzept-Behauptung wäre die Nachbarschaft mächtig überinterpretiert, aber zumindest die Absicht, diesen in Form und Inhalt auseinander strebenden Klassikern viel mehr als den verträumten Blick in die „russische Seele“ zuzutrauen, verbindet denn doch. Anne Lenk, die man sonst eher in München oder Berlin vermutet, hat sich mit ihrer Inszenierung auf den bedingt glanzvollen Titel einer mittelfränkischen „Hausregisseurin“ der neuen Direktion von Jan Philipp Gloger eingelassen. Das bedeutet zunächst das Versprechen von zwei Produktionen pro Saison (im Januar folgt die Roman-Adaption von Roman Ehrlichs „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“) und die Hoffnung auf dauerhafte Partnerschaft. Auch wenn es im ersten Versuch holperte.
Für Tschechows „Die Möwe“, wo eine Gesellschaft traumverlorener Zweifler bei der sommerschweißtreibenden Suche nach dem Sinn des Lebens, ersatzweise der Kunst, durch Irrgärten von Enttäuschungen und Missverständnissen lustwandelt, hat Anne Lenk alle entspannungsdienlichen Landgut-Kulissen verbannt. Die traditionell zum jährlichen Psycho-Rapport versammelten Generationen landen mit ihren geschraubten Sehnsüchten im Plattenbau, den Bühnenbildnerin Judith Oswald wie eine hermetisch verschlossene Schachtel mit Lichthof-Aufhellung präsentiert. Ein paar verlorene Design-Hocker gibt es da, eine Gitarre auch als Sitzgelegenheit, und vor allem viel Freiraum. Keinen Durchblick zum See, den der Dichter seinen Konventions-Gefangenen eigentlich gönnte, dafür jedoch alle Augen konzentriert auf die gebeutelten Figuren. Sie warten geduldig wie Schaufensterpuppen als Spieler auf ihren Einsatz am oder im Schicksal, stehen dann sprungbereit für weitere Gruppenbilder nahe der Rampe. Womit die Erinnerung an Jürgen Goschs überväterliche Interpretation bereits aufgebraucht wäre, denn von nun an wird der Text (in der Übersetzung von Thomas Brasch) als Munition abgefeuert. Zeit und Raum des vieraktigen Originals sind fürs Gefecht aufgehoben, alles gleitet im angeheiterten Attacken-Modus übers grenzenlose Schlachtfeld. Jedoch: Die Gesamtsituation ist offensichtlich mit sich selbst unzufrieden.
Die Regisseurin entscheidet die ewige Debatte über die richtigen Anteile von Melancholie und Witz im Tschechow-Universum zunächst eindeutig. Sie macht sich lustig. Wenn die schon etwas angewitterte Schauspielerin aus der Metropole (die Irina der Ulrike Arnold ist in fleischgewordener Diva-Pose ein interessanter Fall von Selbstbetrug als Lebensentwurf) mit ihrem jüngeren Lover-Literaten (der mit Gitarre sanft bewaffnete Amadeus Köhli spielt dem Dichter eine Nebenkarriere als Liedermacher zu, aber Hannes Wader ist auch keine Lösung) den ländlichen Scheinfrieden aufmischt, steigt der Stimmen- und Stimmungspegel immer gleich von Null auf Hundert. Der halbwegs erwachsene Sohn Kostja (Cem Lukas Yeginer, eindrucksvoll als Widerpart), nimmt es im Schrei-Duell mit der professionell Hochdramatischen auf und sagt ihr, wo die Krise sitzt: „Du hast Angst, dass du ins Mutterfach rutschst“. Drumherum sehen wir unter anderem einen gerne in bedrohlichen Gesang ausbrechenden Arzt (Raphael Rubino), einen kurzbehosten Lehrer mit glänzendem Sonnenbrand aus redlich erworbenen Ferien (Tjark Bernau) sowie den 60jährigen Krückstock-Senior mit Nachholbedarf an Lebenslust (eine Dosis Kabinettstückchen von Thomas Nunner). Und neben der spröden Mascha (Anna Klimovitskaya an der Wodka-Maxiflasche) die blondgelockte Lieblichkeit namens Nina: Pauline Kästner, der Modellfall der Inszenierung. Wie die Regie mit ihr nach all der artifiziellen Komödianten-Artistik, in der die blanke Wortgewalt mit biegsamer Körpersprache und Offensiv-Mimik die Herrschaft einer auftrumpfenden Comedy-Dreifaltigkeit übers schlichte Mitgefühl befeuert, dann doch die steile Kurve ins Stille wagt, hat seinen Überraschungs-Reiz. Allerdings ist schon die halbe Aufführung vorbei, wenn die schrillen Töne plötzlich für Oasen von geflüsterten Träumereien, für den Tschechow-Ton in der Theater-Turbulenz, zurückgezogen werden.
Könnte sein, dass Anne Lenk auf kollektive Komik als radikalen Kontrast setzte, aber der rasende Jux ist mit treuherzigen Sinnsprüchen wie „Nicht der Ruhm ist wichtig, sondern die Kraft, etwas auszuhalten“, nicht mehr einzufangen. Immerhin, die vermaledeite Tschechow-Grundsatzfrage kann nach dem finalen Schuss zum Schluss als beantwortet gelten. Irina, die Bühnen-Fachfrau, wird genötigt, zu verraten, ob das nun tragisch oder komisch war. Sie weiß die Antwort, die auch auf die Nürnberger Inszenierung passt: „Ein Zwischenfall“.
Theaterkritik von Dieter Stoll
für www.nachtkritik.de (Berlin)
DIE MÖWE
Von Anton Tschechow
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oxswald, Kostüme: Sibylle Wallum, Dramaturgie: Brigitte Ostermann, Musik: Thomas Esser, Licht: Kai Luczak
Mit: Ulrike Arnold, Tjark Bernau, Michael Hochstrasser, Pauline Kästner, Anna Klimovitskaya, Amadeus Köhli, Stephanie Leue, Thomas Nunner, Raphael Rubino, Cem Lukas Yeginer
Dauer: 2 Stunden, 10 Minuten, keine Pause.
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JULI 2019
Di., 16.07.2019, 19:30 Uhr
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