Trommelwirbel am Wendepunkt für den Wahnsinn mit Methode
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Wie am Staatstheater Nürnberg die neue Ära von Jens-Daniel Herzog (Opernhaus) und Jan Philipp Gloger (Schauspielhaus) mit acht Premieren an elf Tagen im Akkord manifestiert wird.
Die Katze ist aus dem Sack, jetzt muss sie sich um den Anlauf für die großen Sprünge kümmern: Das neue Team um den Ende September mit Premieren-Stakkato startenden Nürnberger Staatstheater-Intendanten Jens-Daniel Herzog und seinen Spartenchef/Schauspiel Jan Philipp Gloger hat die Pläne des ersten Jahres veröffentlicht – und die angefeuerte Erwartung eines Wendepunktes mit Trommelwirbel und Internet-Rauschen bestätigt. Innerhalb von elf Tagen werfen die neuen Chefs der Doppelhaus-Kulturfabrik am Richard-Wagner-Platz acht anspruchsvolle Neuproduktionen sozusagen prototypisch in den Spielplan-Kreislauf, der danach bis Dezember in sieben weiteren Wochen nochmal sieben ähnlich gewichtige Neuzugänge zur Besichtigung freigeben darf. 15 Inszenierungen als Tableau der Absichten: Ionesco, Tschechow, Euripides, Shakespeare plus fünf Ur- und Erstaufführungen im Schauspiel neben Prokofjew und Händel plus dem lebenden Briten Marc-Antony Turnage samt amerikanischem Musical nach Steven-Spielberg-Kino und Sommernachts-Tanz im Shakespeare-Rahmen. Ruhig wird es bis Ende Juni 2019, wo dann z.B. mit E.T.A. Hoffmanns Grusel-Klassiker „Der Sandmann“ oder Wolfgang Rihms Oper „Jakob Lenz“ die nach Planungsstand mindestens 32. Premierenfeier zu Spontanbilanz oder Krisensortieren im Plauderkreis einlädt, nie. Schon weil das im personell umgewälzten Schauspielhaus (von 23 Ensemblemitgliedern bleiben nun mit Julia Bartolome, Michael Hochstrasser, Pius Maria Cüppers, Frank Damerius, Thomas Nunner und Adeline Schebesch grade mal sechs bekannte) radikal abgeräumte Repertoire nach schnellem Ersatz verlangt und das Musiktheater mit dem ähnlich übergriffig umgebauten Solisten-Stamm (beim Drittel der Verbliebenen sind Joachim Kupfer, Martin Platz, Nikolai Karnolsky und Ludwig Mittelhammer die Stimmen, zu denen der Besucher ein Gesicht und gute Erinnerungen parat hat, von den markanten Damen des vorigen Jahrzehnt ist keine einzige geblieben) nur wenige Übernahmen wiederbeleben kann. Oder will. In der Planung beider Häuser wird erkennbar, dass deren Vergangenheit schnellstmöglich übermalt werden soll. Das wird in Kontrastfarben funktionieren. Sie leuchten grell von den vordersten Rängen. Und wenn auch ein paar umgetopfte Mitbringsel aus Hamburg, Mannheim, Dortmund oder Karlsruhe, wo die leitenden Herren (beide versiert in Oper und Schauspiel) zuvor Spuren setzten, diskret als Vitaminverstärker unter Nürnbergs Neuestes gemischt sind, nötigt bei derartiger Premierendichte lange vor dem noch unberechenbaren künstlerischen Ertrag schon mal ein Talent gewissen Respekt ab – die Organisations-Kunst. Sie will ja mit ihren Platzierungen auch etwas bedeuten.
POLE-POSITION FÜR RUSSLAND, HOLLYWOOD UND EINE KAHLE SÄNGERIN
Spektakulär mutige Pole-Positionen der anbrechenden Ära also für ein gut 70 Jahre altes Kolossal-Werk ohne Fortune von Sergej Prokofjew im Opernhaus, und für ein nur vier Jahre jüngeres, temporär einst durch alle Studiobühnen Europas gereichtes, jedoch seit Jahrzehnten im Denkmals-Status ruhendes Einakter-Doppel von Eugène Ionesco im großen Schauspielhaus. Der russische Komponist mit der unterschwelligen Dissonanz-Moderne (Nürnbergs wohl progressivster GMD aller Zeiten, Eberhard Kloke, präsentierte ihn in seinem umstrittenen Fünf-Jahres-Programm mit „Der feurige Engel“ als Entdeckung und war enttäuscht über die zögerliche Beachtung der Pionier-Tat) und das halbwegs vergessene rumänisch-französische Absurdenschreckgespenst für gutbürgerlich schlummerndes Theater. Der 15 Jahre in Nürnberg amtierende Hansjörg Utzerath versuchte mit exakt den beiden, jetzt als Textbasis-Material angekündigten Stücken „Die Unterrichtsstunde“ und „Die kahle Sängerin“ schon anno 1979 ein Comeback und scheiterte dabei an Publikum und Kritik, die der Wiederbelebung der schreiend komischen Groteske partout nicht folgen wollten.
„Wahnsinn mit Methode“ rief der künftige Intendant Jens-Daniel Herzog nun als Motto ab 2018 für sein etwas betulich „Haus der Künstlerinnen und Künstler“ (ja was denn sonst?) getauftes Institut aus, wobei der zweite Blick inzwischen eindeutig von der „Methode“ gebannt wird. Von einer „höheren Stufe“ der Ansprüche im Schauspiel des jungen Direktionskollegen Jan Philipp Gloger hat er locker flockig geredet und die noch jüngere Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz (nach dem doch sehr stattlichen Nürnberger Maestro-Spalier der Vergangenheit Philippe Auguin/Christof Prick/Marcus Bosch) etwas übermütig wie eine lang erwartete Verheißung in Stellung gebracht. Die ureigene Sparte im Opernhaus, wo ja auch der verbleibende Ballettchef Goyo Montero mit der Ankündigung von Shakespeares „Mittsommernachtstraum“ eher populäre Klassikseiten des Wahnsinns bewegt, ist solide fundiert, zumal flankierend wie in jedem anderen Spielplan opernweltweit Wagner, Puccini und Mozart mit sicherer Größe als Stütz-Objekte warten. Was zuletzt der allgegenwärtige Italo-Wechselschritt Donizetti/Rossini war, soll bei Herzog eine Serie von Händel-Inszenierungen werden. Der amtlich verbreitete Begriff „Theater der Zukunft“ fällt einem dazu nicht zwangsläufig sofort ein, aber es wird höchste Zeit für Nürnberg, die offensichtliche und seit Jahrzehnten beklagte Lücke eines andernorts längst beglaubigten Theatertrends entlang am üppigen Nachlass des 333-Jährigen zu schließen. Von außen betrachtet ist das Defizitausgleich. Wahnsinn? Methode!!
Das komplette Programm, das von der Papierform her durch Akzentverschiebungen irritiert, also neugierig macht, spricht durchaus für Schwung, gar Aufschwung. Dennoch ist es nicht halb so radikal wie der Umbau des Ensembles ausging. Im Musiktheater, das der Intendant als Zentral-Regisseur auf die wohlfeile Interpreten-Konfession „zeitgenössisch“ getauft hat, lässt sich das gut ablesen. „Mehr als schöne Töne“, verspricht er. Statt der Belcanto-Leckerli langfristig also viel Händel (im November mit dem in Witz und Melancholie
wunderbaren „Xerxes“ in Version der französischen Arts-Compagnie Le Lab vornedran), statt der wiederbelebten Broadway-Oldies und der unverwüstlichen Standard-Operetten also dem gediegenen Hollywood-Kino abgelauschte Musicals wie „Catch me if you can“ von 2011, der sehr späte David Bowie in Fortsetzung seiner „Der Mann, der vom Himmel fiel“-Pose als Tongeber von Enda Walsh („Lazarus“) für singende Schauspieler, was grade in Düsseldorf und Bremen gut funktioniert, und die von Barrie Kosky in Berlin neulich triumphal wiederentdeckte deutsche Revue-Operette „Ball im Savoy“ von 1932. Was an der Komischen Oper die Franken-Tatort-Kommissarin Dagmar Manzel sehr souverän löst, sollen in Nürnberg die seit frühen „Kulturzirkus“-Jahren als Tafelhallen-Gäste geliebten Geschwister Pfister inkl. der Diva-Wuchtbrumme „Fräulein Schneider“ mit Verstärkung von Frederike Haas, die hier schon „Sweet Charity“ war, übernehmen. Die Pfisters hatten sich zuletzt mit Eigenprojekten wie „Frau Luna“ im „Tipi am Kanzleramt“-Zelt und Nico Dostals angenehmen Schaumschlag-Schmarrn „Clivia“ an der Komischen Oper qualifiziert und bereiten dort jetzt Paul Abrahams ausgegrabene Fußball-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ mit eben jenem Regisseur vor, der sie in Nürnberg begleitet: Stefan Huber, bekannt vor Ort als Broadway-Oldiepfleger seit „Silk Stockings“.
GROSSE TÖNE FÜR WELTFRIEDEN UND BUSENWUNDER
Statt der zu Unrecht „vergessenen“ Opern-Komponisten des 20. Jahrhunderts, die im vorigen Jahrzehnt gesetzt waren, nun der unvergessliche Prokofjew mit dem allerdings kaum wahrgenommenen vierstündigen Kolossalspektakel „Krieg und Frieden“, das in und nach der Entstehungszeit zeitweilig zur russisch-deutschen Weltgeschichtsmetapher festgeklopft schien, und entdeckbare wie der britische Zeitgenosse Mark-Anthony Turnage, der mit „Anna Nicole“ einem amerikanischen „Busenwunder“ mit Selbstvermarktungsabsichten die Opernbühne eröffnete. Das ausladende Fotomodell wäre gerne eine zweite Monroe geworden, schaffte aber nicht mal die Bereiche von Jayne Mansfield. In London kam das mit Sound-Verpackung auf die Opernbühne und Kritiker des dort höchst prominenten Komponisten schmunzelten, da sei ihm wohl der Stoff eher zur Oberweiten-Operette geraten. Was Herzog, anders als andere deutsche Intendanten, bereits 2013 in Dortmund bemerkenswert und jetzt für Nürnberg einer Wiederholung wert fand.
Dass überschaubar scheinende Projekte wie Wagners „Lohengrin“, „Mozarts „Cosi fan tutte“, Puccinis „Madama Butterfly“ und Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ von 1979 im Spielplan stehen – auch Letzterer, als er neu war, schon mal im Nürnberger Sortiment, inszeniert vom „Pocket Opera“-Gründer Peter B. Wyrsch – entspricht der gängigen Operntradition und wird erregbare Abonnenten beruhigen. Sie können sich in Nürnberg vorerst zwar nicht mehr an herausfordernden Regie-Rebellen wie Calixto Bieito, Peter Konwitschny und Georg Schmiedleitner reiben, aber die Herren David Hermann („Dom Sebastien“), Tilman Knabe („Ariadne auf Naxos“, damals mit dem spektakulären Zerbinetta-Debüt von Weltstar Marlis Petersen) und Stefan Huber („Funny Girl“) kennen sie von früher. Und von Chef Herzog selbst, der in der Startsaison dreifach als Regisseur auftaucht, gab es ja längst „Aida“ und „Tosca“ zum Angewöhnen.
Ganz neu hingegen: Tina Lanik, Schauspielregisseurin vom Münchner Residenztheater, hat mit einer Dortmunder „La traviata“ das Vertrauen des Intendanten gewonnen und macht in Nürnberg mit der stets kitschgefährdeten „Butterfly“ als persönliches Opernprojekt Nr. 3 risikofreudig weiter. Großmeister Verdi allerdings kommt ein Jahr lang in Nürnberg gar nicht vor – auch so kann ein Alleinstellungsmerkmal aussehen.
DER NEUE HAUSAUTOR ÜBTE SCHON IN ERLANGEN
Im Schauspiel gibt es keine direkten Abdrücke von Ehemaligen, sofern man nicht die nach ihrem Projekt in der Südstadt-Kaufhausruine erneut als Randerscheinung wiederkehrende „Agentur für Zeitverschwendung“ zum Indiz ernennen will. So wie der Direktor das vorgefundene Ensemble radikal abräumte, fand er für Regie-Kontinuität keine Anknüpfungspunkte. Er wird wohl auch nicht wissen, dass Terrance McNallys „Meisterklasse“, was sich auf einen bitteren Pädagogenauftritt der Supersopranistin Maria Callas bei Erlöschen ihrer Karriere bezieht, schon mal (ausgezeichnet mit dem Preis der Bayerischen Theatertage) Jutta Richter-Haaser leitete. Freilich setzt Gloger, viel stärker als Vorgänger Klaus Kusenberg es konnte, auf Akzente durch Promis, die kaum beim Publikum, aber in der Branche aufhorchen lassen. Wer da alles sein Glück in Nürnberg versuchen will: Philipp Preuss (Berlin/München/Leipzig) macht „Macbeth“, Tilo Nest (Berliner Ensemble) setzt sich auf die Spur von David Bowie. Mit Anne Lenk (Deutsches Theater Berlin, Thalia Hamburg, Residenz München) fing Nürnberg eine junge „Hausregisseurin“ ein, die mit beträchtlichem Image für Tschechows „Möwe“ und eine Uraufführung anreist. Dass Glogers Versprechen einer „maximalen Spannweite“ der Theatersprachen neben dem allgegenwärtig durch Theaterland reisenden, derzeit noch hauptberuflich in Stuttgart tätigen Autorregisseurintendant Armin Petras, sogar das späte Nürnberg-Debüt von Münchens Theaterlegende Dieter Dorn (83) einschließt, der mit zwei Miniaturtexten von Feydeau und Beckett im großen Haus antritt, hat natürlich besonderen Mehrwert. Ebenso wie die Kontrastwirkung, wenn den großen Vorbildern das Unkonventionelle aus der Performance-Abteilung (Boris Nikitin aus Basel mit der „Aufführung einer gefälschten Predigt über das Sterben“ als erste Novität der Kammerspiele) gegenübersteht. Und falls der Begriff „Hausautor“ vom 39-jährigen Philipp Löhle (sein Debüt-Stück „KAUF-LAND“ wurde übrigens 2005 in Erlangen uraufgeführt) über die Uraufführung „Am Rand“ und den Einkauf seiner Hamburger Produktion „Das Ding“ hinaus ambitioniert genutzt wird, kann das etwas bringen. Was nichts daran ändert, dass Herzog und Gloger ihre neu vereinigte „Familie“, deren Theaterblutsverwandtschaft sie hingebungsvoll beschwören, dem Publikum erst mal Stück für Stück ans Herz legen müssen.
RITTERSCHLÄGE AUS BAYREUTH UND SALZBURG
Man wird Schauspieldirektor Gloger, der vier eigene Inszenierungen einbringt, zwei davon sind neu, ab Ende September häufig in Vorstellungen sehen. „Ich bin ein Publikums-Voyeur“, sagte er vor Jahren in einem Interview: Er will den Zuschauern beim Fühlen zusehen. Momentan ist er 80 Kilometer entfernt beschäftigt. Ehe er die „Kahle Sängerin“ für Nürnberg frisieren kann, muss er anderswo in Franken auf Kurzhaar ein paar Locken drehen. Bei den Bayreuther Festspielen, wo Katharina Wagner die Generationswechseljahre lenkt, wurde er schon vor 2012 – da war er, der Uni frisch entsprungen, unter 30 – als Talent entdeckt und mit einem „Fliegenden Holländer“ beauftragt. Leider lenkte das private Hakenkreuz-Tattoo des etwas infantilen russischen Titelhelden während der Endproben die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung von der Kunst zum Skandal. Bei der Wiederaufnahme 2018 wird das nichts mehr bedeuten.
Das gilt allerdings inzwischen generell für Festspiel-Berufungen, sie werden nur noch bedingt als Ritterschlag mit Rückkoppelung, die sie früher immer waren, wahrgenommen. Dabei ist ja nicht nur Gloger als Bayreuth-Regisseur stolpernd in den höheren Sphären angekommen, sondern Jens-Daniel Herzog nach seinem Mozart-Debüt in Salzburg und dem Auftrag, dort beim Oster-Festival 2019 neue „Meistersinger von Nürnberg“ zu inszenieren, die er später an sein Haus am Tatort mitnehmen kann, aufgewertet. Dass ihm Festspiel-Dirigent Christian Thielemann gewiss nicht folgen wird, muss niemanden grämen – der heutige Marktführer unter den Wagner-Dirigenten hatte im Alter von 27 Jahren das Stück mit der Festwiese einst erstmals geleitet, und das in Nürnberg zur Orchesterchef-Bewerbung. Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz, die in der ersten Nürnberger Saison ab September viele Konzerte dirigiert, aber nur zwei Opernproduktionen („Krieg und Frieden“, „Lohengrin“) übernimmt, wird mit dann 34 immer noch schmunzeln können, wenn sie sich fürs „Verachtet mir die Meister nicht“ am Pult reckt.
[Text: Dieter Stoll]
DIETER STOLL, Theaterkritiker und langjähriger Ressortleiter „Kultur“ bei der AZ.
Als Dieter Stoll nach 35 Jahren als Kulturressortleiter der Abendzeitung und Theater-Kritiker für alle Sparten in den Ruhestand ging, gab es die AZ noch. Seither schreibt er z.B. für Die Deutsche Bühne und ddb-online (Köln) sowie für nachtkritik.de (Berlin), sowie monatlich im Straßenkreuzer seinen Theatertipp. Aber am meisten dürfen wir uns über Dieter Stoll freuen. DANKE!
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