Siegfrieds Sofa zwischen Sturm und Gemetzel

MONTAG, 2. APRIL 2018

#Dieter Stoll, #Opernhaus, #Schauspielhaus, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

Zwei Hitparaden-Behauptungen zum Ende einer Ära in den Häusern des Staatstheaters Nürnberg – Die offiziellen letzten warmen Worte schwimmen vorerst noch im Erhitzungssud der Buchstabensuppe, aber es abschiedet nun doch schon hochgradig am Richard-Wagner-Platz.

Zwar weiß mancher flüchtige Beobachter, sofern er der hälftigen Nürnberger Theater-Insel im Gegenlicht der Bundesanstalt für Arbeit nur eingeschränkte Aufmerksamkeit schenkt, wohl immer noch nicht genau, wer sich da eigentlich wovon verabschiedet. Ganz zu schweigen vom Warum! Wie war‘s doch gleich: Einer geht nach 18 Jahren (Direktor Klaus Kusenberg, Schauspielhaus), einer nach 10 Spielzeiten (Intendant Peter Theiler, Staatstheater/Opernhaus), der dritte Mann bringt es nur auf acht Jahre (Generalmusikdirektor Marcus Bosch, Staatsphilharmonie), der vierte geht gar nicht und feiert dennoch am Rande mit, alternativfaktisch seine höchstpersönliche „Dekade“ als Zwischenbescheid an die öffentliche Meinung (Direktor Goyo Montero, Ballett). „Ära wem Ära gebührt“, könnte man da in freier Wortbiegung elastisch zitieren. Muss allerdings nicht unbedingt sein, das Knüpfen von Laudatio-Girlanden war in der finalen Spielplanung sowieso inbegriffen.
 
Man könnte bei Bedarf sogar von einer Trennkost-Saison sprechen. Jetzt kommen die hausgemachten Bilanzen wie Geisterboten raumgreifend um die Ecke geschwebt, im Stützkorsett einiger anfechtbarer Erfolgsbehauptungen manchmal auch gewackelt, die Deutungshoheit übers Ereignis jedoch fest im Visier. Das geht bis Juli munter so weiter. Abschied ist nicht bloß „ein scharfes Schwert“, wie es uns ein Dichter namens Roger Whittaker so eindringlich warnend sagt, sondern manchmal eben auch ein Kaugummi. Da können sich die Schnitte ganz schön hinziehen.

Seit Ende März steht zur Basissicherung des dekorativ gehäufelten Nachruhms ein extra im Auftrag der Stiftung Staatstheater gedrehter, ausführlicher Doku-Film von Matthias Schmidt und Jim Günther mit dem sanft irritierenden Titel „… und gleichzeitig der Olymp“ (gemeint ist der Blick zum angestaubten, aber dennoch prächtig bleibenden Kronleuchter im Himmel über dem Opernparkett) als DVD und auf der Website des Staatstheaters zum gratis Runterladen für jedermann bereit. Eine grundsympathische, technisch bestens gelungene  PR-Produktion für den Nostalgie-Hausgebrauch, die beim archivgesteuerten Schnipsel-Collagieren von Szenen und nett arrangierten Wohlwollensinterviews zur Absicherung der alsbald „guten alten“ Zeiten immerhin denkbare kritische Fragen vollständig ausklammert und die begeisterten Zeitzeugen zuvorkommend entlang am Rand der qualifizierten Dampfplauderei zur allgemeinen Jubel-Ankerstelle geleitet. Übrigens dabei auch die überraschend dominante Rolle von portioniertem Filterkaffee bei einer Dauerbenefizveranstaltung namens „Damentee“ im Glucksaal/Foyer rückhaltlos aufklärt, und sich insgesamt unendlich viel mehr für 10 Jahre Musiktheater als für 18 Jahre Schauspiel interessiert. Ob das einem Herzenswunsch des Auftraggebers entspricht oder doch das Epizentrum der kulturbeflissenen Stadtgesellschaft exakt nachbildet, wer weiß das schon!

Bei so viel offiziöser Selbstbestätigungsautomatik, die sich der berüchtigten fränkischen Skepsis-Mentalität elegant entzieht, muss man keineswegs den Spielverderber geben, darf jedoch mit subjektiver Meinungsfreude das flächig gekräuselte Lob denn doch ein wenig im Sinne der Meinungsvielfalt positiv aufwühlen. Deshalb – nein, von den Flops reden wir hier lieber gar nicht! – die zwei folgenden, garantiert handgebastelten 18+10-Hitparaden als spielerischer Beitrag zur Entwölkung der tirilierenden Bilanzpauschalen. Nicht nach Besucher-
quote per Kassensturz (da gewinnt sowieso in allen Häusern bei jeder Intendanz das Entertainment, also immer „My fair Lady“ gegen „Wozzeck“), sondern nach dem, was die Ensemblekunstwerker aus Individualisten und Kollektiven in Aktion und Reaktion an Erinnerungen ohne Verfallsdatum zustande brachten. Bewertet aus dem Blickwinkel des (nicht nur, aber auch berufsmäßigen) Dauerbesuchers in allen Häusern dieses unseres Staatstheaters. Jeder möge seine eigene Erinnerung selbstbewusst dagegen stellen.


DIE BESTEN AUS 18 JAHREN SCHAUSPIEL

EINE HITPARADE NÜRNBERGER PRODUKTIONEN DER ÄRA KUSENBERG, DIE IN DER ERINNERUNG (VIELLEICHT) NOCH EINMAL ERBLÜHEN

Bei den rund 250 Premieren, die zwischen 2000 und 2018 von der Schauspielsparte des Nürnberger Staatstheaters unter der Gesamtleitung von Klaus Kusenberg im großen Haus, den Kammerspielen und der BlueBox, auch mal in Museumshof und Katharinenruine, sowie während der Umbaujahre in der Kongresshalle und der Tafelhalle produziert wurden, gibt es neben beliebten, inspirierten, routinierten und, ja, in stattlicher Anzahl missglückten Aufführungen natürlich auch die Highlight-Sonderklasse, die in der Erinnerung noch einmal aufzublühen scheint. Das kann man an Titeln wiederbeleben, an Szenenfotos, an Schauspielern, besonders an stilbildenden Regisseuren im Wiederholungstäterstatus. Bei denen führt nach dieser Vorzugsrechnung Stefan Otteni (3 herausragende Inszenierungen) vor Georg Schmiedleitner und Petra Luisa Meyer (je 2). Unterm Strich sind es sowieso die kompletten Produktionen, in denen alles zusammengeflossen ist, was an Inspiration und Talent abrufbar war. Zehn (bzw. mit einem doppelt besetzten Rang 7 und dem auf der letztverfügbaren Position dichtgedrängt aufgeteilten Sammelplatz der „Muss-unbedingt-auch-noch-dabei-sein“-Projekte: fünfzehn) Titel, die in 18 Spielzeiten das Publikum über den Standard-Applaus hinaus aufmerken ließen, vielleicht sogar im Rückblick nochmal erschauern lassen. Klarer Fall von subjektiver Wertung, das sowieso.

1. IMMER NOCH STURM von Peter Handke, Regie: Stefan Otteni, mit Thomas Nunner, Elke Wollmann, Felix Axel Preißler u.a., mit Mädchenchor und starken Musikakzenten von Bettina Ostermeier – 2012 im Schauspielhaus: Ein Jahr nach der umstrittenen Salzburger Festspiel-Uraufführung die unbestreitbar grandiose Nürnberger Fassung – der Spitzenreiter.

2. MARGARETHA DI NAPOLI von Shakespeare/Lanoye/Perceval,
Regie: Georg Schmiedleitner, mit Melanie Wiegmann u.a. – 2000 im Schauspielhaus (auch ein Echo auf Salzburg!) als explodierendes Startsignal der Ära Kusenberg, geradezu die Ausrufung einer Wende, und die Entdeckung des österreichischen Regisseurs Georg Schmiedleitner für Nürnberg & Deutschland.

3. DIE ERMITTLUNG von Peter Weiss, Regie: Kathrin Mädler – 2010 in der Kongresshalle als metaphysische Zeitzeugenwanderung entlang der Nazi-Ruinen-Innenwelt eine Neudeutung des verarbeiteten Prozess-Textes, der vier Jahrzehnte vorher aus nachvollziehbaren Gründen nur als distanzierte Lesung in Nürnberg gewagt wurde, von der inszenierenden Dramaturgin genial umgesetzt. Mahnmal und Mirakel zugleich mit winkenden Gespenstern der angebrochenen Vergangenheit, verinnerlicht von Jochen Kuhl, Thomas L. Dietz, Jan Ole Sroka, Heimo Essl, Stefan Lorch.

4. ALTE MEISTER von Thomas Bernhard, Regie: Frank Behnke – 2004 in den Kammerspielen das späte Einvernehmen mit dem in Nürnberg so oft, bis dahin eigentlich immer wieder missverstandenen Schimpfkanonier der poetisch aufgeladenen Wortgewalt. Wer hätte gedacht, dass dessen rituelle Zornausbrüche auch lächeln können.

5. PROFESSOR BERNHARDI von Arthur Schnitzler, Regie: Stefan Otteni, mit Frank Damerius – 2006 im Schauspielhaus ein unerwartetes Wunder blitzgescheiter Süffisanz, die in Schnitzlers nur scheinbar boulevardesk leichtgewichtigen Dialogen eine konfliktgeladene Debatten-Fallhöhe entdeckte, wie es erst zehn Jahre später an der Berliner Schaubühne wieder so überzeugend gelang.

6. EINE FAMILIE von Tracy Letts, Regie: Enrico Lübbe mit Jutta Richter-Haaser, Adeline Schebesch, Michaela Domes – 2009 in der Tafelhalle dicht vor den Augen des Publikums als faszinierend kampflustiges Charakterkopf-an-Kopf-Rennen, das mit pointierten Zimmerschlacht-Dialogen den Prototypen-Aufmarsch im familiären Planquadrat der Stubenarena geradezu tosend umkränzte.

7. DIE SCHUTZBEFOHLENEN von Elfriede Jelinek, Regie: Bettina Bruinier – 2016 im Schauspielhaus, die gedankenartistische Wortflächen-Akrobatik als kollektive Ensembleleistung, die wie im Nachhall auf Stefan Ottenis alle komödiantischen Schleusen öffnende Vorarbeit mit seiner spielverrückt geglückten Jelinek-Satire DIE KONTRAKTE DES KAUFMANNS von 2010 in der Tafelhalle aufbauen konnte.

8. DER GOLDENE DRACHE von Roland Schimmelpfennig, Regie: Petra Luisa Meyer, mit Jutta Richter-Haaser, Michael Hochstrasser, Pius Maria Cüppers und der Entdeckung von Josephine Köhler für Nürnberg – 2010 in den Kammerspielen eine umwerfend komisch bewältigte Thriller-Travestie im Bannkreis eines China-Restaurants. Klamaukmenü des himmlischen Friedens, süßsauer.

9. VERBRENNUNGEN von Wajdi Mouawad, Regie: Georg Schmiedleitner – 2006 im Schauspielhaus, ein Bürgerkriegsdrama des kanadischen Autors in deutscher Erstaufführung. Großes emotionales Polittheater, runtergekühlt auf eisige Ästhetik, das dem Zuschauer mit starken Bildern und klarer Haltung die Augen für die schiefe Weltlage weit öffnete.

10. DER GOTT DES GEMETZELS von Yasmina Reza, Regie: Peter Hatházy mit Adeline Schebesch, Elke Wollmann, Frank Damerius,  Thomas Klenk – 2007 in den Kammerspielen als Modellfall von ausbalancierter Quartett-Komödiantik sowie die alle Peinlichkeit elegant umtänzelnden VAGINA-MONOLOGE von Eve Elsner mit Adeline Schebesch, Regie: Petra Luisa Meyer 2001 in der BlueBox (später: Kammerspiele), das kultgewordene Hörspieltheater WINNETOU von Eike Hannemann mit den sächselnden Blutsbrüdern Philipp Weigand und Thomas L. Dietz 2012 in der BlueBox (später Kammerspiele), Caryl Churchills Gen-Gruselspiel DIE KOPIEN mit Marco Steeger und Heimo Essl, Regie: Alice Asper 2006 in der BlueBox, und DIE ROCKY HORROR SHOW von Richard O‘Brien als fulminante Theaterparty in Regie von Klaus Kusenberg 2013 im Schauspielhaus.


DIE BESTEN AUS ZEHN JAHREN MUSIKTHEATER

WAS UNTER DER INTENDANZ PETER THEILER (2008-2018) UND PHILHARMONIE-CHEF MARCUS BOSCH (2010-2018) BESONDERS AUFFIEL

Es ist natürlich weder Urteil noch Zufall, dass in der bilanzierenden Top-Liste der besten Opernhaus-Aufführungen die Tanztheater-Kreationen von Goyo Montero komplett fehlen. Der Ballettdirektor und Chefchoreograph, der von Peter Theiler als Nachfolger von Daniela Kurz nach Nürnberg geholt wurde, hat zweifellos wesentlich zum Erfolg von dessen Ära beigetragen. Da er jedoch mit der neuen, der nächsten Intendanz Jens-Daniel Herzog nahtlos weitermacht, besteht kein Anlass zum Schlussstrich – auch wenn er selber mit seinem „Dekade“-Projekt wie ein Zaungast des Abschieds mitfeiert. Es geht bei dieser quotenfreien Hitparade um Oper und Musical (die einst in Nürnberg tief verwurzelte Operette spielte trotz mehrerer Versuche künstlerisch keine erwähnenswerte Rolle), um die Doppel-Dominanz von drei Regisseuren in der Auslese der Top 10 (Calixto Bieto, Peter Konwitschny, Georg Schmiedleitner), sowie die dabei an Allgegenwart grenzende sechsfache Pult-Präsenz des GMD Marcus Bosch. Und beiläufig auch um den Hinweis, dass vier der zehn Bestseller im Wechselrahmensystem entstanden – als komplette Übernahme fertiger Produktionen für die Wiederaufbereitung durchs Nürnberger Ensemble. Vor allem aber: Vier der zehn „Besten“ stehen noch oder wieder auf dem Spielplan, sind also erreichbar. Staatsintendant Theilers zu Amtsbeginn verkündeter Schwerpunkt-Leitgedanke fürs Opernhaus, mit dem Begriffspaar Belcanto & Broadway, dem vernachlässigten französischen Repertoire und den zu Nazi-Zeiten verbotenen, danach fahrlässig vergessenen deutschen Komponisten die Idee einer zeitweiligen Ruhestandsversetzung für den sonst immer wieder bevorzugten Richard Wagner zu verbinden, ist nach dem dann spontan doch gestemmten „Ring“-Vierteiler nur noch eine gern archivierte Anekdote geblieben.  

1. Richard Wagner DER RING DES NIBELUNGEN (Rheingold, Walküre, Siegfried, Götterdämmerung) 2013/14/15, R: Georg Schmiedleitner, Musikalische Leitung: Marcus Bosch, mit Vincent Wolfsteiner (Loge, Siegmund, Siegfried), Rachael Tovey (Brünnhilde), Antonio Yang (Alberich, Wotan). Ein Sprühregen von einleuchtenden Regieeinfällen für Wagners Welttheater mit den Höhepunkten in der zweiten Hälfte des Zyklus (wo Held Siegfried die Göttertochter Brünnhilde aufs Spießersofa zieht und die Welt im Twittersturm wahlweise auf- oder untergeht), etlichen Sänger-Entdeckungen von Weltklasse und einem Dirigenten mit austariertem Feingefühl im Pathos-Gewitter, was als Gegenfarbe zu Philippe Auguins legendärer „Nibelungen“-Magie beim „Ring“ zuvor bestehen konnte.
 
2. Leos Janacek AUS EINEM TOTENHAUS, 2016, R: Calixto Bieito (Produktion aus Basel), ML: Marcus Bosch, mit Antonio Yang. Ein Flugzeug in Originalgröße auf der Bühne und eine Wucht von eiskalt fixierter Brachial-Emotion in der Inszenierung machten aus dem düsteren Trauerspiel-Oratorium aus denkbar dunkelster Schwermut ein musiktheatrales Ereignis von seltenem Format. Ein unvergessliches Bild, als solches fast schon Objektmonument für sich, überwältigender Klang und Regiezugriff bis ins Chor-Detail.

3. Giacomo Puccini TOSCA, 2011, R: Jens-Daniel Herzog, ML: Christof Prick, mit Bariton Mikolaj Zalasinski als dominierendem Scarpia (ab 15. Juni, dann 19. Juni sowie 8., 14., 19. Juli wieder im Spielplan). Sieben Jahre vor der Übernahme der Nürnberger Intendanz überraschte Gastregisseur Jens-Daniel Herzog aus Dortmund, nachdem ihm seine Verdi-„Aida“ von 2009 trotz der Mülleimer am Königshof/Personaleingang eher mäßig aufregend geraten war, mit geschliffener Thriller-Qualität jenseits der groben Kolportage, die dem Werk und seinem schmissigen Komponisten Puccini sonst so oft zusetzt. Reißerisch auf den Punkt gebracht, gedanklich aber auch.

4. Giuseppe Verdi LA TRAVIATA, 2012, R: Peter Konwitschny (Produktion aus Graz), ML: Marcus Bosch, mit Hrachuhí Bassénz. Das beliebteste Verdi-Werk, neu durchdacht und emotional entschlackt mit erstklassiger Titelrollen-Besetzung, aufschlussreichen biografischen Randbemerkungen der Regie und schwebenden Emotionen ohne Kitsch-Anhang (ab 7. April wieder auf dem Spielplan, dann noch 15., 22., 26. April, 12. Mai sowie 7. und 9. Juni).

5. Richard Strauss ELEKTRA, 2012, R: Georg Schmiedleitner, ML: Marcus Bosch, mit dem lokalen Erstauftritt der „Sopran-Röhre“ Rachael Tovey und einer fabelhaften Orest-Studie von Jochen Kupfer, der damit den Durchbruch zum Heldenbariton schaffte. Die modernste, wildeste, bis heute herausfordernde Oper von Richard Strauss in angemessen drastischer Regie-Zuspitzung. Klassische Größe im Wirbel zeitgenössischer Ideen, getragen von archaischer Stimmgewalt, getrieben von der Schlagkraft des Orchesters.

6. Bernd Alois Zimmermann DIE SOLDATEN, 2018, Regie: Peter Konwitschny, ML: Marcus Bosch mit Susanne Elmark (noch am 8., 14. und 23. April auf dem Spielplan). Nach der Pioniertat 1974 von Hans Gierster/Hans-Peter Lehmann, die vorsichtig auf die poetische Polit-Agitation der Vorlage setzte, die zweite, ganz andere Nürnberger Inszenierung des Avantgarde-Jahrhundertwerks, diesmal im Blick der Individualisierung des Untergangsthemas. Ein weitgehend gelungener, imposanter Kraftakt für das ganze Haus und seine bestens disponierten Verstärkungen, gekonnt abgesetzt von den luxuriösen Materialschlachten diverser Festspiel-Interpretationen. Extremfall für alle beteiligten Künstler und das aufgeschlossene Publikum, das am Ende für 20 Minuten von dunkler Bühne aus ins Chaos hörend und blickend den inszenierten Untergang mit EKG in der Mittelloge überm leeren Parkett erlebt.

7. Giacomo Puccini TURANDOT, 2014 R: Calixto Bieito, ML: Peter Tilling, mit Rachael Tovey und Vincent Wolfsteiner. Der knallharte Regiezugriff mit den brennenden Fahrrädern in Theater-China verschaffte dem sonst oft tosend in Märchenfloskeln und „Nessun dorma“-Phobien leerlaufenden, eher nach Verona-Format strebenden Werk seine wahre, intelligente Durchschlagskraft. Die beiden Ausnahmeprotagonisten, die Hochdramatische und der Heldentenor der Meisterklasse, erfüllten das dennoch unabweisbare Dekret der höchsten Töne mit vokalem Wumms souverän.

8. Gioachino Rossini DIE REISE NACH REIMS, 2011, R: Laura Scozzi, ML: Philipp Pointner, mit Tilman Lichdi und Hrachuhí Bassénz. Im Sortiment der Belcanto-Delikatessen und der Auswahl von Scozzis manchmal auch alberner Kolossal-Comedys, die allesamt wie aus ihrer Choreographen-Vergangenheit geschlüpft wirkten, das am meisten überzeugende Ergebnis in der Sondermischung von Witz und Klang, wo sich Dadaismus-Spuren mit Kabarett und Goldkehlchen-Karat verbündeten.

9. Cole Porter SILK STOCKINGS - SEIDENSTRÜMPFE, 2008, R: Stefan Huber (Produktion aus Gelsenkirchen), ML: Kai Tietje, mit Step-King Gaines Hall und dem auf Opernsopran-Grundierung spartensprengenden Multitalent Leah Gordon im „Ninotschka“-Musical frei nach Ernst Lubitschs Garbo-Film. Die mit Abstand beste Genre-Produktion im schnell berechenbaren Serien-Schwerpunkt „Broadway-Oldies“ und (Achtung, vergiftetes Lob!) die einzige dieser Abteilung, die der speziellen Genialität einer Hollywood/Broadway-Vorlage mit eigener Bühnen-Vitalität begegnen und damit originellen Erfolg haben konnte.

10. Wolfgang Amadeus Mozart IDOMENEO, 2018, R: David Bösch
(Produktion aus Basel/Antwerpen), ML: Marcus Bosch. Nach 50 Jahren Nürnberger Denkpause ein spannendes Comeback für Mozarts spröde anspruchsvolles Lieblingswerk (noch am 17./28. April auf dem Spielplan). Musikalisch voller überraschend kantiger Dramatik, szenisch eine Sturmwelle visueller Zitate übers wirre Libretto hinweg, vokal ein Kampf mit Herausforderungen auf offener Bühne. Lichtblick eines ansonsten eher etwas schummrig ausgefallenen Jahrzehnts fürs Mozart-Musiktheater in Nürnberg.

 




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