Der Bannfluch vom Ersatz-Papst
#Dieter Stoll, #Kritik, #Kultur, #Schauspielhaus, #Theater
Wie Kritiker nach der selben Nürnberger Aufführung zu völlig gegensätzlichen Urteilen kommen konnten: die Macht des Theaters oder gar keine Kunst? – Dieter Stolls staunende Betrachtung eines Grenzgebiets alternativer Fakten.
War das Nürnberger Schauspielhaus-Ensemble an diesem einen Premierenabend Ende 2017 oder gar zuvor über den Zeitraum der letzten 18 Jahre hinweg „in seiner Gesamtheit viel zu wenig faszinierend“, ja – Schreck lass nach – „viel zu rechtschaffen korrekt“ (Kritiker I)? Oder spielte es in der betreffenden Aufführung „ganz ohne Anstrengung: zauberhaft leicht, gestochen klar, fast jugendlich“ (Kritiker II), waren da wieder mal „alle Schauspieler auf ihre Weise großartig“ (Kritiker III) und wurde die „Regie ganz auf die komödiantische Energie des erstklassigen Ensembles gebaut“ (Kritiker IV). Oder war alles völlig anders? Würde mancher gerne wissen, geht es doch zunächst um die gleiche Vorstellung, nämlich Klaus Kusenbergs, des von 2000 bis 2018 amtierenden Schauspieldirektors auch im Februar mehrmals laufende Inszenierung von Joel Pommerats tragikomischem Szenenreigen „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ mit zehn fest engagierten Mimen in Aktion. Drei ortsansässige Kritiker aus Nürnberg mit Hingabe fürs Detail und ein angereister aus München mit dem Hang zum Überwölbenden sind danach ungewollt ins imaginäre Meinungs-Match geraten. Doch niemand hat hier das letzte Pauschalwort, die traditionsreiche höhere Weihe der hierarchischen Rechthaberei ist wohl doch jenseits aller Statussymbolik der artenreinste Aburteilungshumbug. Denn: „Mit der Gesamtsituation unzufrieden“ kann doch eigentlich nur der rote Bruder Winnetouch sein.
Der Papst, jener vielsprachige Überpapa vom Petersplatz-Balkon, das war früher mal ausschließlich der abgehobene Mann zwischen Himmel und Erde, schlichtweg unfehlbar in Glaubens- wie Verdammnisfragen und als einzig besiegelter Stellvertreter des Allerhöchsten ein Unikat der laufenden Weltgeschichte. Heilig, heilig, heilig! Der davon abgeleitete Begriff „Kritiker-Papst“ für die zwischenirdische Kunst-Welt galt freilich – traurig, traurig, traurig! - schon immer als teuflisch boshaft schillernde Travestie. Es war die meist bloß ironisch bewunderte Spottgeburt im Abgleich zur Geschäftsführung des Überirdischen, dennoch von gewisser Respektsbezeugung getragen und für die anschwellende, durchaus mit der Sprengkraft der Exkommunikation sympathisierende Machtfülle grummelnd respektiert.
EIN BISSCHEN PAPST MUSS SEIN
Man bezeichnete die berufsmäßigen Rezensenten von (beispielsweise) Theateraufführungen, wenn sie nur lange genug und mit dem ausfahrbaren Selbstbewusstsein des Besserwissers ihre Kritiken als oberinstanzliche Urteile auflagenstark in Umlauf bringen konnten, schnell mal als päpstlich. Jede Saisonbilanz eine Enzyklika. Absurd schon deshalb, weil da nicht etwa die unterstellte einzigartige Weisheit dieser einsam thronenden Autorität für Glaubensfragen (und natürlich ist das Theater irgendwie auch Glaubenssache) fixiert war, sondern ihre beliebige Verästelung vom dicken Stammbaum der Katholiken-Metropole in die morschen Seitentriebe der knochigen Ableger – jede Sparte, jedes Land, ja jede mittelgroße Kommune hatte da zeitweise passgenau zum überschaubaren Theater auf der Gegenseite der Fahrbahn sein eigenes, Bedeutung suggerierendes Kritiker-Päpstchen als flankierende Maßnahme eines unheimlichen Medienechos im Kulturleben. Frei nach Roberto Blanco: Ein bisschen Papst muss sein. Meist war das der milde Spielverderber, der nach dem oft pauschalen Premierenjubel der Fangemeinde mit gestrecktem Zeigefinger seine strenge Gegendarstellung so tippte, dass jedermann immer noch eine Kumuluskulisse von Wohlwollen über jedem Reinigungsgewitter ahnen konnte. Dies war bei schnaubender Diktion oft von begrenzter Wirkung nebst unbegrenzbarer Komik, wenn nicht grade einer wie der selige Friedrich Luft in Berlin mit direkt aus dem Bauchgefühl kommenden Einschätzungen zwischen den Fronten von Avantgarde-Verrenkung und Populisten-Plappern seine Varianten von Laudatio oder Verriss so elegant tänzelte, dass sie von allen Seiten gelassen abgenickt werden konnten. Als Regelfall galt das keineswegs. Auch in Nürnberg wurde der Letzte, der das Hochsitzmodell mit dem vermuteten Fallbeil als Zepter noch annähernd ausfüllte, von den Betroffenen eher gefürchtet und gehasst – jeweils einen Tag lang, wie Theaterveteran Hansjörg Utzerath noch nachträglich spottet. Das war im vorigen Jahrtausend.
Inzwischen haben wir im wahren Vatikan zwei echte Päpste, der amtierende lässt sich sogar anfassen und wird öfter mit Pizza als mit Manna in Verbindung gebracht. Eine Autorität ist er trotzdem. Unantastbare Kritiker-Päpste hingegen, so die Erkenntnislage einer zu Jahresbeginn wieder von der inoffiziellen Konfliktzentrale Berlin aus aufgeflammten Theaterdebatte, sind auf freier Journalistenwildbahn schon länger nicht mehr gesehen worden, man hielte sie für ausgestorben, würden nicht gelegentlich niedliche Nachzüglerexemplare dieser endenwollenden Zwischenrufevolution selbstreflektiv ihre Faust zum Rundschlag geballt ins Wolkige schlagen. Womit wir das Eingangsthema beiläufig erneut im Vorbeigehen grüßen können.
„DIE NÜRNBERGER FALLEN AUF SOLCHEN SCHMUS NICHT HEREIN“
Im „Die ganze Welt ist Bühne“ betitelten Band des Buchfrankenverlags, in dem Herausgeberin Michaela Domes kürzlich Platz für Bekenntnisse von 30 Akteuren der „Theaterlandschaft Franken“ geschaffen hat, wird am Rande auch über Kritiker geschrieben. Schauspielerin Adeline Schebesch etwa – „Kammerschauspielerin“, so viel Zeit muss sein – beklagt „immer noch einige wenige, ewig gestrige Feuilletonisten, die im Zusammenhang mit Nürnberg gerne von Provinz sprechen …“ und setzt nach: „Provinz?! Ach, wirklich? Nur weil einige Kunstgeile in der Hauptstadt sich Federn in den Hintern stecken, ist das deswegen weder bereichernd noch erkenntnishaft“. Schebesch, die grade für 10. Mai die Uraufführung des eigenen, garantiert ungefiederten Stückes „Körper“ in der BlueBox am Schauspielhaus vorbereitet, ist sich beim Seitenblick ins Zentrum der deutschen Bühnenbewegung sicher: „Die Nürnberger fallen auf einen solchen Schmus nicht herein“. Wie denn auch, wenn er hier gar nicht stattfindet. Was wiederum Hörfunk-Rezensentin Barbara Bogen vom BR-Studio Franken ärgert, sie fordert 35 Seiten vorher das Gegenteil, „mehr Wahnsinn, mehr Wut und Mut“ vom Nürnberger Theater. Auf rückwärtig einsetzbare Federn besteht sie nicht.
DIE LEGENDE VON DEN OHRFEIGEN OHNE ENDE
Der langjährige NZ-Kritiker Herbert „halef“ Heinzelmann, der in der gleichen Textsammlung ein paar Seiten entfernt seine Freuden und Sehnsüchte eines ständigen Begleiters im Theaterleben ausführlich skizziert, will gewiss kein „Papst“ sein. Eigentlich lieber „Mitspieler“, der jedoch „Theaterluft anders als der durchschnittliche Konsument“ atmet, dabei an die Legendenseite des „berühmten Berliner Kollegen Alfred Kerr“ unten im Parkett rückt, gleichzeitig jedoch verbrüdernd die etwas weniger legendären „Kollegen vom Schauspielhaus“ oben auf der Bühne umarmt. Mit denen hat sich der multipel schweifende Rundum-„Kollege“ in Jahrzehnten nie böswillig gerempelt, nur „gut gegessen“ und früher in der alten Zeit sogar „gesoffen“. Schulterklopfen war also in Nürnberg beliebter als Tiefschlägerei. Anders als bei FAZ-Großkritiker a.D. Gerhard Stadelmaier (auch in der neuesten Debatte wieder wie ein emeritierter letzter Mohikaner des Donnerworts im Papst-Format beschworen), dessen öffentlicher Nahkampf mit einem durchknallenden Frankfurter Schauspieler dazumal nachrichtenarme Zeiten füllte und dem Feuilleton temporäres Upgrade in Nachrichtenspalten brachte. Der hysterische Mime wurde entlassen, der heldenhaft um seinen Notizblock kämpfende Kritiker verlängerte wochenlang multimedial sein ruhmreiches Leiden als Spiralblockwart von Interview zu Interview. Die dazu passende Ohrfeigen-Legende vom promillefreudigen Erlanger Intendanten, der einen unliebsamen Kritiker zwecks pädagogischer Handanlegung ins Gebüsch gezogen haben soll, erzählt Heinzelmann in seinem Rückblick gerne als ungesicherte Zugabe. Ob sie wahr ist? Da kann ich mit persönlicher Verbürgung auch eine Anekdote ausgraben – vom überforderten Hauptdarsteller einer im Nürnberger Rathaussaal aufgeführten Moliére-Komödie, den die detaillierte Rezension seiner grimassenreichen Darstellung des „Eingebildeten Kranken“ so sehr ärgerte, dass er nach Stärkung in der Theaterkantine und dem einen oder anderen Wege-Schnäpschen den weiten Gang zur Redaktion am Hauptmarkt auf sich nahm, um dem schreibenden Delinquenten beim kommunikativen Treff an der Pforte einen symbolischen Backenstreich zu verpassen. Da der Be- bzw. Getroffene aber von Natur aus zwei Köpfe größer war und die Hand des Rächers aus oben beschriebenen Gründen deutlich schwerer als sonst beweglich schien, gab es nur ein leichtes Tätscheln an der Schulter – wegen des matten Streicheleinheits-Quotienten leider auch nicht als Ritterschlag interpretierbar. Immerhin schaffte der Künstler den Weg zurück in die Kantine unfallfrei und informierte dort den grade pausierenden Teil der Öffentlichkeit über seine tatkräftige Wiederherstellung der Künstlerehre. Theater, Theater! Erfahren habe ich davon, weil bedingt wohlmeinende Mitkünstler sogleich telefonisch nachfragten, was daran denn wahr ist und – hohoho – ob ich etwas dagegen unternehmen würde. Ich bin heute noch glücklich, mir beim Achselzucken das Schultergelenk nicht ausgekugelt zu haben. Ach ja, früher war wirklich nicht alles schlecht.
WAS FÜR EIN LIEBESAKT VON INQUISITION UND TÜV
Aber zurück zum Thema. Wenn zur Nürnberger Premiere der aktivste Reisekritiker der Landeshauptstadt (der Name tut hier nichts zur Sache) anreist, schrammt das hausintern am Richard-Wagner-Platz immer noch an einer Ahnung von Ausnahmezustand entlang. Er kommt ja so selten, der Placebo-Papst, vielleicht ist er diesmal gnädig, trägt Ruhm über die Stadtgrenze hinaus in die Meinungszentrale, gibt seinen Segen oder wenigstens Absolution. Nur wer die Sehnsucht kennt … Wenn überhaupt, dann wäre ja dort im Quartier der hochverehrten „Süddeutschen“ das letzte Kühlfach der für Zweitnutzer aus dem Kulturressort eingefrorenen Schlagzeile „Wir sind Papst“ zu vermuten. Doch wieder keine Spur von urbi et orbi, nur die Knallerbsenversion von Donner & Blitz. So schrieb der gestrenge Rezensent, der seine raren Nürnberg-Ausflüge zuvor eher zum gelegentlichen Verkosten von Raritäten der Oper nebenan lenkte, auf der ICE-Rückreise mal schnell knackig als Bilanz von 40 Kusenberg-Inszenierungen am Schauspielhaus, die er freilich größtenteils gar nicht kennt, über den Regisseur, der laut der anderen Kritiken unter anderem auch mit exakt dieser aktuellen Produktion „die Macht des Theaters beschwört“ (II), „psychologisches Fingerspitzengefühl“ beweist (III) und „langjährige solide Arbeit“ abrundet (IV), in denkbar grimmigstem Liebesakt von Heiligem Offizium und TÜV: „Er ist kein Künstler“ (I). Ach so? Ach ja? Ach was!
Wie gesagt, Kritiker-Päpste sind inzwischen bloß noch schwarzromantische Illusionen, Dämonen von gestern, so flatterhaft fetzig aufgelöst wie der implodierende Duweißtschon. Sie verbreiten allenfalls Phantomschmerzen für Albtraumspiele, doch es gibt sie in Wirklichkeit gar nicht mehr. Und nun sollten wir allmählich auch die Inquisition in den Ruhestand schicken.
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JOEL POMMERAT: DIE WIEDERVEREINIGUNG DER BEIDEN KOREAS
vom 17.12.2017-17.07.2018 im Schauspielhaus Nürnberg
REGIE: Klaus Kusenberg
BÜHNE: Ayse Özel
KOSTÜME: Bettina Marx
MUSIK: Bettina Ostermeier
LICHT: Tobias Krauß
DRAMATURGIE: Jascha Fendel
ENSEMBLE: Mareile Blendl, Josephine Köhler, Bettina Langehein, Nicola Lembach, Adeline Schebesch, Heimo Essl, Michael Hochstrasser, Janco Lamprecht, Stefan Lorch, Marco Steeger
LINK: Schauspieldirektor Klaus Kusenberg über seine letzte Premiere "Die Wiedervereinigung der beiden Koreas" im Schauspielhaus
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