Die wahre Kunst gibt's nur im Sechser-Pack

FREITAG, 27. OKTOBER 2017

#Dieter Stoll, #Kolumne, #Kultur, #Opernhaus, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

Wie in Nürnberg die Angst vor der „besonderen Oper“ bewältigt wird: Aller Anfang ist schwer, alles Ende ist schnell für „Die Trojaner“ und „Die Soldaten“. Spurloses verschwinden ist keine Kulturpolitik.

Gar kein Zweifel, diese Nürnberger Opernhaus-Aufführung ist eine Wucht! Nicht unbedingt das Überwältigende, einen Taumel zwischen Begeisterung und Empörung auslösende Ereignis, das nach Papierform zu erhoffen war, aber ein extraordinäres Gesamtkunstwerk-Koloss allemal. Man hat „Die Trojaner“ des Hector Berlioz, obwohl bereits 1863 fertig komponiert und seither zumindest theoretisch mit allen Anzeichen von Ehrfurcht als kühnes Monumentalwerk der Musiktheatergeschichte gepriesen, gar mit Wagners „Götterdämmerung“ auf eine Stufe gestellt, vorher noch nie hier aufgeführt. Und es bedarf keiner Hellseherei, um zu behaupten, dass der fränkische Opernfreund von 2017 in seinem hoffentlich noch langen Leben als Kulturkonsument diese breitspurige Zumutung allenfalls auf Bildungsreisen in anderen Opernwelten wiedersehen kann. Zu groß ist der Aufwand der „Grand Opéra“, zu schwer die Besetzung der Partien, zu komplex die deutbare Story, zu unberechenbar die Nachfrage des Publikums. In der unterschwellig stärker denn je dominierenden Kosten/Nutzen-Planung des Subventionsbetriebs eine bedrohliche Ballung von Risikofaktoren.

NACHHALTIGKEIT WIE BEI BIO-GEMÜSE?

Man sieht es schon daran, dass dieses Spielplan-Highlight trotz seiner verführerisch funkelnden Raritätssonderklasse, der denkbar mutigsten Regiebesetzung (mit dem so oft wie in „Turandot“ und „Aus einem Totenhaus“ klug provozierenden Calixto Bieito) und ambitioniertem Sänger-Ensemble unter der Leitung des Qualität garantierenden GMD Marcus Bosch gerade mal für sechs Vorstellungen angesetzt ist. Ende November verschwindet die Produktion wieder aus dem Spielplan. Was die Frage der „Nachhaltigkeit“, die ja nicht nur bei Bio-Gemüse und Plastiktüten sinnstiftend ist, für die Kunst ganz grundsätzlich und speziell in Nürnberg aufwirft. Denn das ähnlich gewichtige Saison-Projekt von Bernd-Alois Zimmermanns „Soldaten“, dem Sonderfall des 19. folgt das Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, wird im März 2018 ebenfalls nach sechs Terminen innerhalb von wenigen Wochen wieder aufgelöst. Der Hinweis, dass die jeweilige Nachbarpositionen im Premieren-Tableau, die Operette „Die lustige Witwe“ und die „Broadway-Revue“, mit je 16 Aufführungen in fünf Monaten angeboten werden, ist natürlich Polemik. Aber wenn´s doch wahr ist!

WIR ERREICHEN DEN ÜBERFLUSS

Neu ist dieses Akzeptanzproblem natürlich nicht, vom speziellen Nürnberg-Fluch wird niemand reden können, bei welchem alle Opernhäuser weltweit ähnlich defensiv mit neuen und unerschlossenen Werken umgehen. Doch so auffällig wie derzeit, wo clevere Spielplan-politik den Umgang mit Herausforderungen nach allen Seiten abfedert, war es noch nie. Am Nürnberger Opernhaus gab es im letzten Halbjahrhundert exakt drei Versuche, das traditionell konservative Stamm- und Gelegenheitspublikum aus der Reserve zu locken. Erst organisierte das Stadttheater im Drei-Jahres-Turnus die „Woche des Gegenwartstheaters“ für eine Bündelung des Ausnahmezustands mit jungen, zumindest lebenden Komponisten, also von Carl Orff bis Werner Egk. Dann erfand man während einer extrem engagierten Direktion, die Isang Yun und Hans Werner Henze mit Hingabe pflegte, das Etikett „Die besondere Oper zum besonderen Preis“ und bot das schwer verkäufliche Gut zu ermäßigten Tarifen, die der Stadtrat extra genehmigte. Das war die Erfindung des Sechser-Packs im Spielplan, mehr als je sechs Aufführungen waren schon in der Planung nicht vorgesehen. Nur bei Ligetis „Le Grand Macabre“, einem raumgreifend grellen Komödien-Spektakel, hängte die verblüffte Intendanz wegen großer Nachfrage zwei Zugabevorstellungen an. Bei Henzes „Wir erreichen den Fluss“, aufwendig von Köln ins Nürnberger Format verpflanzt, blieb es hingegen wieder bei der Termineinschränkung. Was den scharfzüngigen, wenn auch mitnichten kunstsinnigen Finanzreferenten im Rathaus zur Berechnung der Pro-Kopf-Kosten und handschriftlicher Notiz in einer Stadtratsvorlage ermunterte: „Wir erreichen den Überfluss“. Was haben wir gelacht!

Als dann der sehr eigenwillige Modernisierungsprophet Eberhard Kloke die Opernhaus-Leitung an sich riss, ging es kämpferischer zu. Die Kosten für seine „Prometheus“-Projekte in Collagen-Art blieben lange Geheimsache, unabhängig von Platzausnutzungsquoten. Alban Bergs „Wozzeck“ als Meisterwerk der Moderne wurde vorher und nachher (zuletzt im Frühjahr sechs Mal) auch gespielt, aber nur Kloke fetzte es den Abonnenten kompromisslos in einer Serie von 15 Vorstellungen wie ein Fanal hin. Auch so, stellte sich heraus, bleibt Überzeugungsarbeit ein schleichender Vorgang in Springprozessionstempo. Immerhin, den Versuch war es wert.

Prägend für die „Modernisierung“ der Oper ist, nimmt man die jüngere Vergangenheit in Nürnberg als Beispiel, weniger der offene Umgang mit nachrückenden Talenten (Wolfgang Rihms „Eroberung von Mexiko“ war da wohl die bislang letzte, uneingeschränkt geglückte Produktion, und die liegt gut 25 Jahre zurück), als die Wiederentdeckung verkannter, vergessener oder verdrängter Werke. Der Zugriff fantasiebegabter (und immer auch in gewissem Maß skrupelloser) Regisseure auf die in Konvention erstarrten Klassik-Bestseller wurde dann bis heute die festeste Größe für die Erfüllung des Begriffes „modernes Musiktheater“. Manchmal, wenn die Schatzgräber und der Regie-Zampano zusammenfinden, erwartet man Großartiges. Das kann, wie das aktuelle Beispiel zeigt, auch ein Irrtum sein.

NACHGEWÜRZT MIT HOUELLEBECQ

Bei „Die Trojaner“ von Hector Berlioz, zum Start der letzten Saison von Peter Theilers Intendanz jetzt programmatisch, aber eben nur für die bewussten sechs Abende in den Spielplan gehoben, kam eigentlich viel Verheißungsvolles zusammen: Das schwierige, ausufernde Stück und der für Schwierigkeiten (und ausufernde Phantasie) prädestinierte Regisseur samt einem Dirigenten, der offensichtlich keine Angst vor Experimenten kennt. Man nahm den Brocken, der mit Hundertschaften die bildungsbürgerlich gestanzte Antike in Weltuntergangsstimmung hochwirbelt, wie szenisches Rohmaterial. Erst ist es zu tosendem Sound ein streng choreographiertes Requiem (Motto: Was du nicht inszenieren kannst, musst du stilisieren), dann wird auf empfindsame Cinemascope-Innigkeit, gepantscht mit Blut und Öl, umgeschaltet. Das Trojanische Pferd ist eine riesige Kinderzeichnung, der Palast ein drehbares Holzbalkengerippe, der Massenchor schlüpft in Kampfanzüge. Statt mit dem Rotstift ist das weitschweifige Original während der Proben offenbar mit der Heckenschere gekürzt worden, was den roten Faden der Story allmählich auflöst. In der Kürze liegt nicht immer Würze, auch wenn in einem der entstandenen Zwischenhohlräume unerwartet die scharfe Lyrik des jeglicher Grand-Opéra-Nähe unverdächtigen Michel Houellebecq zitiert wird. Es gibt imposante Momente, Klangbilder und Szenen-Metaphern, die den neugierigen Opernbesucher faszinieren können. Aber das Konzentrat, das diese auf drei Stunden geschrumpften, somit kürzesten „Trojaner“ der Theatergeschichte sein müssten, entsteht nicht. Insofern waren Beifall (für Ensemble, Chor und Orchester) und Buh-Rufe (für die Regie) als Premieren-Quittung ganz okay. Wichtig und richtig ist das Projekt trotzdem eindeutig.

Im letzten Jahrzehnt hat Nürnbergs Opernhaus-Spielplan auch jenseits der Delikatessen von Donizetti und Rossini manche Lücken geschlossen. Die Vermutung, dass beim Publikum damit generell die Lust aufs Unerwartete gestiegen sei, ist einfach zu schön, um wahr zu sein. Da hat sich seit den „Wochen des Gegenwartstheaters“ und der „besonderen Oper zum besonderen Preis“ in 50 Jahren nicht viel getan. Darf‘s dennoch ein bissl mehr sein? Wie die Zukunft am Nürnberger Musiktheater auch aussehen mag, die Bannung von innerbetrieblichen Zweifeln über jeder Nische für diese wohl immer „besonders“ bleibenden Projekte, die Abwendung vom Sechser-Pack-Minimalismus als Quotensicherheits-Garantie, sollte das erste Gebot weiterer Perspektiven sein. Spurloses Verschwinden ist keine diskutable Variante für Kunst. Vorerst liegt es allein am wachen Zuschauer, seine Vor-Entscheidung eigenständig zu fällen: Wer „Die Trojaner“ (noch bis 26. November) wagt, wird „Die Soldaten“ (17. März bis 23. April 2018) gewinnen.




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