Andreas Radlmaier im Gespräch mit: Anne Klinge, Fußtheatermacherin
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Als Anne Klinge für den CURT-Fotografen Socken und Stiefel auszieht, die Hosenbeine hochkrempelt und ihre Füße mittels Gumminase, Perücken und Klamotten als skurrile Puppen über der Tischplatte kreisen lässt, kommt von den Nachbartischen im Café spontane Anerkennung: Das sei ja mal was ganz Anderes. Stimmt. Nicht nur im Kaffeehaus.
ANNE KLINGE – FUSSTHEATERMACHERIN UND REGISSEURIN
Die 44-Jährige, zuhause in Betzenstein in der Fränkischen Schweiz, ist mit ihrem einzigartigen Fußtheater als weltweites Phänomen unterwegs – von Peru bis zum australischen Sydney, wo sie vor 2.000 Zuschauern im Opernhaus spielte. Spätestens seit ihrem Auftritt in der englischen TV-Show „Britain’s Got Talent“, der auf YouTube über 40 Millionen Aufrufe hat, wird sie als göttliche Ferse herumgereicht. Selbst Dieter Bohlen outete sich als Fan. In Nürnberg ist sie im Dezember im Sternenhaus und beim Silvestival zu erleben.
ANREAS RADLMAIER: Wenigen anderen Menschen wird wohl im Berufsleben so unablässig auf die Füße gestarrt wie Dir. Also: Fuß aufs Herz, wann warst Du das letzte Mal bei der Pediküre?
ANNE KLINGE: Ich pflege meine Füße generell selber. Das bin ich ihnen schuldig. Ich war in meinem Leben kein einziges Mal bei der Fußpflege, obwohl das sicher eine gute Kooperation wäre.
A.R.: Was ist mit Hühneraugen, Blasen …?
A.K.: Das gibt’s nicht. Hühneraugen hatte ich noch nie. Und Blasen kann man durch gute Schuhe vermeiden. Ich trage auch keine High Heels oder ähnliches. Da passe ich schon auf.
A.R.: Bist Du immer noch Barfußläuferin?
A.K.: Ach, das ist ein großer Konflikt. Wenn ich absehen kann, dass ich ein paar Tage keine Vorstellung habe und es Sommer ist, gehe ich schon barfuß. Muss halt dann ein wenig mehr schrubben. Ich lass mir das nicht entgehen. Nicht mehr so exzessiv wie früher. Während der Uni-Zeit in Erlangen bin ich ja den ganzen Sommer barfuß gegangen, im Bus, in der Uni, überall.
A.R.: Was machst Du auf der Bühne bei Krämpfen?
A.K.: Ich bin überhaupt nicht krampfanfällig. Wahrscheinlich habe ich gute Voraussetzungen: eine gute Schuhgröße, 36/37, so gut wie keine Krämpfe. Von 100 Aufführungen vielleicht zwei Mal. Das liegt sicher auch daran, dass ich mich gut warm mache. Ich habe ein ganz festes Yoga-Programm vorher, so dass die Muskeln wirklich geschmeidig sind. Wenn ich mal einen Krampf habe, ist das für mich dann eher witzig, weil ich mich dann frage, wie mag gerade die Figur gucken. Da beißt man die Zähne zusammen und spielt weiter.
A.R.: Die Körperhaltung lässt ja vermuten, dass auch Gesäß- und Rückenmuskulatur Hochleistungen bringen müssen.
A.K.: Das ist gut beobachtet. Viele meinen immer, ich brauche besondere Bauchmuskulatur. Aber die wird nicht so extrem beansprucht wie etwa die Nackenmuskulatur. Wenn ich irgendwo hin müsste, wäre es also weniger Fußpflege als Physiotherapie für die Halswirbel.
A.R.: Deine Kunst ist auch eine Ehrenrettung für einen unterbewerteten Körperteil, oder?
A.K.: Denke ich auch. Erst einmal ist einem nicht bewusst, dass die Fußformen so etwas wie ein Gesicht darstellen. In der Fußreflexzonentherapie weiß man ja wenigstens, dass die Fußform den ganzen Körper repräsentiert. In den Füßen sind so feine Bewegungen möglich, das glaubt man gar nicht. Und es macht Spaß, wenn man es entdeckt, ausarbeitet und ausweitet. Auch wenn ich das eher rein fachlich sehe und weniger ein Faible für Füße habe.
A.R.: Hast Du Fußfetischisten im Publikum?
A.K.: Hin und wieder.
A.R.: Wie äußert sich das?
A.K.: Ich merke es eher durch Anmerkungen auf Facebook, dass sich da jemand outet. Das Schöne an den Füßen ist: Das sind Puppen aus Fleisch und Blut. Sie haben Haut, Falten, Muskeln. Letztendlich sind die Füße die Verlängerung des restlichen Körpers, der ja mitspielt. Alle Spannung der Figur landet im Bein.
A.R.: Aber Du brauchst die Arme schon fürs Gesamte?
A.K.: Ja, unbedingt. Man sagt zwar Fußtheater, aber letztendlich ist es Körpertheater.
A.R.: In den Füßen stecken auch mehr Sinneszellen als im Gesicht. Das ist auch nicht präsent bei uns. Wie viel Seele haben also Sohlen für Dich?
A.K.: Sie haben enormes Potenzial, wenn man auch bedenkt, dass dort feine Muskeln sich zu Mimik ausprägen können.
A.R.: Sind Füße sexy oder ein notwendiges Übel?
A.K.: Letzteres auf keinen Fall. Das weiß man ja spätestens, wenn man mit ihnen Probleme hat. Die Fußreflexzonen zeigen auch, wie wichtig es ist, Füße in Bewegung zu halten. Wenn man sie immer steif in Schuhe steckt, verklemmen auch die Organe. Das Anregen der Fußmuskeln tut auch mir und meinem Körper gut.
A.R.: Bist Du von Berufs wegen inzwischen stärker an den Füßen anderer Menschen interessiert?
A.K.: Nicht extrem fokussiert, aber man denkt sich, welche geeignet wären für Fußtheater und welche nicht.
A.R.: Die richtige Proportion ist also wichtig?
A.K.: Ja, denn es braucht ein bestimmten Wahrheitsgehalt für den Menschen, damit er eine Assoziation herstellen kann. Ich zeige den Fuß ja zunächst blank, dann schlupfe ich in das Hemd. Damit ist ein Körper gegeben. Dann sitzt oben etwas drauf, das könnte der Kopf sein. Und dann entscheidet sich die Figur für eine Nase. Guckt sich um, wow – ein Gesicht!
A.R.: Deine Figuren sind also autonome Wesen?
A.K.: Absolut. Ich bau‘ sie in den Vorstellungen auch so auf, dass sie entscheiden können. Manchmal muss ich sie auch überreden, zu einer Nase, zu einer Perücke. Das ist für mich eine Initiation: Aus dem Fuß wird eine Figur! Eine Menschwerdung. Und danach folgt der Charakter.
A.R.: Dein Auftritt 2016 in der englischen Casting-Show „Britain‘s Got Talent“ wurde 20 Millionen Mal aufgerufen ...
A.K.: Inzwischen 40 Millionen Mal ...
A.R.: Oha. War das der Wendepunkt in Deiner Karriere?
A.K.: Sagen wir mal so: Es gab mehrere. In Coburg, wo ich am Landestheater viele Klassiker inszeniert hatte, hatte ein Intendantenwechsel einen Cut zur Folge. Da gab ich dem Fußtheater die Chance, die es verdient. Rückblickend war das gut so, dass ich das vorher im Background als Kunst ausarbeiten konnte. Wenn ich selbst spiele, bin ich immer auch ein wenig Regisseur, also selbstkritisch. Ich habe noch keine einzige Vorstellung runtergespielt.
A.R.: Routine ist Dir also ein Gräuel?
A.K.: Das hasse ich. Ich denke immer mit der Figur, als Figur. Oftmals überraschen mich meine Figuren dann auch mit ihren Ideen. Neues birgt Potenzial. Ich bin auch ein Mensch, der sagt: Fehler sind gut, weil sie dazu da sind, besser zu werden, flexibel zu bleiben.
A.R.: Nochmals zurück zu „Britain‘s Got Talent“.
A.K.: Stimmt, da war ich stehen geblieben. Ich habe zunächst mit meinem Fußtheater sofort viel Aufmerksamkeit bekommen. Dann kamen Kleinkunstpreise, Koblenz, Bozen, und die ersten Fernsehauftritte. Bis dahin dachte ich immer, Fußtheater funktioniert im Fernsehen nicht.
A.R.: Weil?
A.K.: Weil ich noch in langen Bögen, in theatralen Geschichten gedacht habe. Für die „Bülent Ceylan Show“ habe ich dann improvisiert. Das funktionierte auch. Weitere Shows bei Gottschalk, Hirschhausen usw. folgten. Auch wenn ich dort nur Figuren gezeigt habe und Szenen lediglich angespielt habe. Das war noch nicht richtig befriedigend. Aber ich merkte: Die Figuren sind fotogen.
A.R.: Das heißt aber auch: Du hast Dich in dieses Metier hinein getastet, es gab kein fertiges Konzept.
A.K.: Genau.
A.R.: Deshalb gibt es auch nicht dieses Urerlebnis?
A.K.: Jein, das kam vielleicht noch am ehesten mit der RTL-Castingshow „Die Puppenstars“. Fürs Fernsehen hatte ich in der Vergangenheit nichts Passendes gefunden. Als man mir gemeinsames Arbeiten anbot, dachte ich mir: Das ist die Chance für mich. Denn dort gibt es Trainer und Leute, die sich mit Fernsehtechnik auskennen, ich kenne meine Fußtheatertechnik. Wenn wir uns jetzt zusammentun, könnte auch etwas Befriedigendes rauskommen. Ganz neue Gebiete reizen mich, aber ich muss das Gefühl haben, handwerklich-technisch dazu bereit zu sein. So haben wir bei RTL aus meiner Theaternummer eine Fernsehnummer geschmolzen. Das Außenherum der Casting-Show war zwar doof mit dem ganzen Jury-Gedöns, aber meine Nummer hat funktioniert. Und in dem Bewusstsein bin ich dann auch nach England gefahren. Eigentlich erwartete ich auch nicht viel davon. Ich habe die Nummer also nochmals gezeigt und mir danach gedacht, was geht denn da jetzt ab?!? Ein Riesensaal in Birmingham voller Geraune, Staunen, Freude, so dass ich ganz frei gespielt habe. Und das Ende werde ich nie vergessen: Ich setzte mich auf und 1.000 Menschen standen auf, rasten, jubelten und strahlten mich an.
A.R.: Dennoch noch mal nachgehakt: Wie ist die Idee entstanden, sich auf die Füße zu konzentrieren?
A.K.: Mit Werner Müller haben wir an der Uni in Erlangen Übungen zu Pantomime und Körpertheater gemacht. Ich hatte als Sams eine Gumminase auf. Bei Maskenspielen haben wir überlegt, was man noch verkleiden kann. Und da kam ich irgendwann auch auf die Füße.
A.R.: Glaubst Du, dass Du auch von der Exotik Deines Tuns profitierst?
A.K.: Sicher, aber das allein hätte mir nie gereicht. Deshalb habe ich auch so lange gewartet, bis ich sagen kann, ich bringe gutes, perfektes Handwerk mit.
A.R.: Infolgedessen bist Du nun tatsächlich auf allen Erdteilen unterwegs. Und in komplett unterschiedlichen Zusammenhängen: auf Gauklerfesten, in Kindergärten, in Fernsehshows, Theatern und auf Kleinkunstfestivals. Diese Offenheit könnte ein Spielprinzip sein.
A.K.: Das bin ich. Das ist gewollt. Schon als Schüler war ich für alles offen. Ich war super in Mathe und Biologie, habe Ausstellungspreise für Malerei gewonnen und geturnt. Und ich wollte nichts davon abgeben. Ich habe mir schon bei der Berufswahl schwer getan. Am Ende habe ich mich für Regisseur entschieden, weil mir das der einzige Beruf erschien, wo ich alles, was ich kann und was mich interessiert, unterbringen kann. Ich nenne mich auch Grenzgänger. Weil ich auf jedem der Gebiete ein Grenzgänger bin, und ein Exot. Ich genieße das total. Auch mit ganz verschiedenen Menschen zusammenzukommen. Die Artisten und Comedians sind wieder ganz anders als die Schauspieler und Puppenspieler. Auch ganz verschiedene Kunstrichtungen und Inspirationen zu erleben, genieße ich sehr.
A.R.: Ruhen die Regie-Ambitionen momentan?
A.K.: Würde ich schon sagen. Bei den vielen und spannenden Anfragen weltweit kann ich mich nicht auf bestimmte Inszenierungszeiträume festlegen.
A.R.: Fehlt Dir das?
A.K.: Im Moment noch nicht. Ich habe in meinem Leben 65 Inszenierungen gemacht. Fast alles, was ich mir vorher gewünscht habe. Aber ich möchte nicht sagen, dass ich in meinem Leben nicht mehr inszenieren will. Vielleicht auch mit diesen ganzen, neuen Erfahrungen.
A.R.: Du lebst ja nicht gerade in einem medialen Hot Spot. Wo kommt die Inspiration her?
A.K.: Ich bin ja immer wieder auf Festivals und in Varietés unterwegs, wo man auch andere Künstler erleben kann. Ich nehme aber auch ganz viel aus dem Alltag, aus Musik, die ich höre, aus Beobachtungen der Leute, lauter kleine Details. Manchmal sprechen auch Objekte zu mir. Aber es ist wirklich schwer, eine Geschichte fürs Fußtheater zu erfinden. Gerade die internationalen, nonverbalen Stücke müssen selbsterklärend sein. Und da ist dann auch schnell Schluss mit Grundlagengeschichten. Die Beziehungsnummer mit Verlieben, Baby, Alltagsstress – die geht halt jeden auf der Welt an. Diese Geschichte gibt es nun schon. Und bei Anfragen aus Miami und anderen Teilen dieses Planeten, die sich eine Variante wünschen, fühle ich mich dann manchmal wie ein Sänger, der einen Hit gelandet hat und nun zur Reproduktion gezwungen wird.
A.R.: Du spürst keinen Erwartungsdruck?
A.K.: Es geht. Ich weiß, dass ich gute Sachen habe, aber nicht für alle Gelegenheiten passende.
A.R.: Hat sich denn in den letzten 20 Jahren Dein Verhältnis zu Deinen Füßen verändert?
A.K.: Ich freue mich daran, wie ich sie spüren kann, wie ich Zugriff habe auf die Flexibilität meiner Füße. Da hat sich viel verknüpft. Aber auch koordinativ ist das sehr anspruchsvoll. Du denkst wie beim Klavierspielen immer zweigleisig. Ich merke oft in komplexen Szenen, wie sich meine Hirnhälften auseinanderfalten und gleichzeitig unterschiedlichst agieren und fühlen.
A.R.: Möchtest Du denn, dass eines Tages die ganze Welt Fußtheater macht?
A.K.: Langsam denke ich darüber nach, warum das nicht eine ganz eigene Puppensparte sein kann. Es gibt Handpuppen, es gibt Marionetten – warum sollte es nicht eine ganze Sparte Fußtheater geben? Es ist anspruchsvoll insofern, weil die Geschichten nicht leicht zu erfinden sind.
A.R.: Kunst-Stoffe müssen her!
A.K.: Ja, und zwar welche, die universell und global sind. Das braucht Zeit. Bei „Hugo – ein Leben zu Fuß“ wollte ich eben ein Schicksal erzählen wie im Theater, mit tiefen Gefühlen. Und dass die Füße nicht nur skurrile Typen sind. Da haben dann auch die Leute während der Vorstellung Tränen in den Augen. Komik und Tragik mit den Füßen zu schaffen, ist das Ziel.
A.R.: Wofür Füße bislang weniger zuständig sind.
A.K.: Jein. Die Zuschauer sehen schon Mimik. Sie entsteht durch meinen Atem als Schauspielerin, den ich einbringe. Ich spiele volle Kanne mit. Ich durchlebe jede Situation hinten in voller Intensität. Das ist wie beim Schauspiel. Das ergibt auch diese Spannung, die in den Raum fließt.
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ANNE KLINGE
Jahrgang 1972, wuchs im Thüringer Wald auf einer Erdbebenforschungsstation auf, war in ihrer Jugend Leistungssportlerin und studierte in Erlangen Theaterwissenschaften. Nach Ausbildungsstationen am Bochumer Schauspielhaus und dem Bayerischen Staatsschauspiel arbeitete sie als Regisseurin. Sie inszenierte etwa 65 Mal zwischen Innsbruck und Leipzig. In Nürnberg machte sie sich einen Namen mit Musicals wie „Der kleine Horrorladen“, „Moulin Rouge“ und „Christa“. Über 20 Jahre hinweg entwickelte sie parallel ihr Fußtheater. 2016 verschaffte ihr ein Fernsehauftritt in der Show „Britain’s Got Talent“ einen ungeheuren Karriereschub. Heute tourt sie weltweit. Anne Klinge hat aus erster Beziehung mit dem Pantomimen und Regisseur Werner Müller zwei Kinder (13 und 15 Jahre) und lebt seit vier Jahren mit ihrer Familie in Illafeld bei Betzenstein. Am 21. Dezember spielt sie für Kinder im Sternenhaus (Heilig-Geist-Saal) und am 31. Dezember im Rahmen des Silvestivals im Germanischen Nationalmuseum.
FÜR CURT: ANDREAS RADLMAIER
Andreas verantwortet u.a. das Bardentreffen, Klassik Open Air, Stars im Luitpoldhain … Als Leiter des Projektbüros im Nürnberger Kulturreferat ist Andreas verantwortlich für o.g. Festivals, sowie für die Entwicklung neuer Formate wie Silvestival, Nürnberg spielt Wagner und Criminale – Formate, die curt journalistisch begleitet. Andreas ist seit über 30 Jahren in und für die Kulturszene tätig. Studium der Altphilologie, Englisch, Geschichte. Bis 2010 in verantwortlicher Position in der Kulturredaktion der Abendzeitung Nürnberg. 2003: Kulturpreis der Stadt Nürnberg für kulturjournalistische Arbeit und Mitarbeit an zahlreichen Publikationen.
FÜR DIE FOTOS: Cris Civitilo, www.cris-c.de
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