Theobald O.J. Fuchs: Virtueller Zwilling
#Comedy, #Kolumne, #Krimi, #Theobald O.J. Fuchs
Oft genug sehe ich eine Beobachtung bestätigt, die das fränkische Landvolk schon lange vor mir tätigte. Denn sagt es, das Landvolk, nicht bei jeder Gelegenheit: Es – das allgemeine Es – kommt, wie es kommen soll?
Foto: Katharina WinterMein Zwillingsbruder zum Beispiel. Er kam drei Minuten nach mir auf die Welt, weshalb ich für ihn immer Vorbildfunktion hatte. Schließlich war ich immer schon drei Minuten vor ihm da: Beim Mittagessen für den letzten Kloß, im Kino auf dem letzten, freien Sitz, in der Schule, um die einzige Eins abzustauben, im Lotto-Toto-Geschäft, um die letzten, richtigen sechs Zahlen anzukreuzen.
Als ich drei Minuten vor ihm die Fahrprüfung bestand und den letzten Führerschein, der von der laufenden Fünf-Jahres-Zuteilung übrig war, ausgehändigt bekam, hatte er endgültig die Schnauze voll.
Er beschloss ein Business-Punk zu werden, montierte sich eine Irokesen-Frisur auf den Kopf und stellte seine Ernährung komplett auf Bier und Zigaretten um. Er schrieb unter dem Pseudonym „Mutter Vulgesa“ eine fünfzigbändige Reihe Softporno-Romane, um seine kühnen Pläne zu finanzieren, und verkaufte unwegwerfbare Feuerzeuge an kettenrauchende Walretter in Borkum.
Während ich in den folgenden Jahren im Trippelschritt Karriere machte, startete er ein Projekt nach dem anderen, jedes verrückter als das Vorhergehende. Es gelang ihm, in Ohio als Kaiser von China im Zirkus gezeigt zu werden, er brachte Schrebergartengrundstücke auf dem Mars an die Börse von Mumbai und schreckte nicht einmal davor zurück, im Disko-Terminblättchen CURT seltsame Kolumnen zu veröffentlichen.
Ich hingegen buckelte vor allen Chefs, die ich je hatte, kroch in jeden Arsch, der sich nicht bei drei rechtzeitig weggedreht hatte, verteilte verlogene Komplimente an jeden, dessen Eitelkeit danach dürstete, ich zog jede Uniform an, die man mir hin hielt, und bewegte mich stets absolut exakt in der Mitte des Mainstreams. Ich wurde Ingenieur, erklärte Grau und Dunkelblau für meine endgültigen Lieblingsfarben und entwickelte eine Maschine, die aus altem Papier Neues machte. Die Idee, die meinem Erfolg zu Grunde lag, war ebenso einfach wie phantasielos: Winzigkleine Roboter-Putzfrauen kratzen mit Nano-Bürsten die Druckerschwärze von Buchseiten. Das, was danach übrig bleibt, wird nach Österreich exportiert, wo man darauf Dünndruckausgaben von Robert Musil und Thomas Bernhard druckt.
Wenn es ihn denn wirklich gäbe, diesen Zwillingsbruder! Denn er ist lediglich drei virtuelle Minuten nach mir geboren und selbst ein virtuelles Wesen. Das hat genaugenommen mit Quantenelektro-dynamik zu tun, aber das interessiert meinen Zwilling nicht die Bohne. Selbst wenn ich wollte, ich könnte nicht mit ihm tauschen. Würden wir uns begegnen, würden wir sofort verschmelzen. Wie Materie, die auf Antimaterie trifft: Ein kurzes Aufblitzen wahnwitziger Ideen und Erfindungen, eingehüllt in einen Nebel der liebreizendsten Poesie. Danach nichts mehr als porentieffreie und -reine Energie. Vor allem aber könnte ich unmöglich verschmerzen, dass darunter meine Frisur in Mitleidenschaft gezogen würde.
Besser also, ich verzichte auf Gesellschaft, Karriere und Macht und verbringe viel Zeit bei der Betrachtung jener zahlreichen, bunten Wandgemälde, die neuerdings die öffentliche Verkehrsinfrastruktur zieren.
[Stets im Bilde: Theo Fuchs, Fotografin: Katharina Winter]
UND WAS MACHT THEO WIRKLICH UND SONST SO?
... im September eigentlich nichts, hat er uns verraten. Schreiben tut er wieder irgendwas. Ob das nun der Weihnachtswunschzettel ist, er die Unterschrift seiner Nachbarin übt („Kann man immer brauchen!“) oder seine Weltkarriere als Krimiautor weiter ausbaut? Keine Ahnung.
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