Erschrecken kann uns eh nichts mehr!

FREITAG, 1. SEPTEMBER 2017

#Dieter Stoll, #Kolumne, #Kritik, #Kultur, #Theater

Statt „Leitkultur“-Behauptung ein Ping-Pong von Anmerkungen aus der sicheren Distanz der Proszeniumsloge: Georg Leipold (Kulturpolitiker) und Dieter Stoll (Kulturjournalist) über Theater als Mimen-Feld.

DIETER STOLL: Stellen wir uns mal eine Nürnberger Straßenumfrage vor mit der Denksportaufgabe an Zufallspassanten, wahlweise fünf Namen von ortsansässigen SchauspielerInnen oder Fußballspielern – also Spielende in jedem Fall – zu nennen. Hätten die Theatermacher eine Sieges-Chance?

GEORG LEIPOLD: Na klar – wenn die Umfrage zwischen 19 und 20 Uhr am Richard- Wagner-Platz stattfindet. Tagsüber in der Breiten Gasse bin ich mir nicht sicher. Da würde ich eher auf die Ballarbeiter tippen. Von denen gibt es mehr Fotos. Und sie haben eher erinnerungsfähige Frisuren. Obwohl natürlich SchauspielerInnen eine viel längere Lebensarbeitszeit haben als Fußballspieler. Und damit auch mehr Zeit bleibt, sich ihre Namen zu merken. Interessant wäre, wie es um das Verhältnis gegenwärtig und ehemalig Aktiver aussieht – die Gnade der frühen Geburt und des schnellen Vergessens.

SOFIE KESSER ODER MAX MORLOCK – DAS IST KEINE FRAGE

DIETER STOLL: Also in meinem Langzeitgedächtnis haben Sofie Keeser und Max Morlock bequem auf gleicher Ebene Platz. Ansonsten ist die Vergangenheit natürlich dadurch kontaminiert, dass das Schauspielhaus als Institution ganz sicher niemals Deutscher Meister war, der Club hingegen mit seinen halbwegs historischen Titeln in jeder Liga „Der  Ruhmreiche“ bleibt. Trotzdem gibt es den Sympathie-Bonus auch für dieses Theater, das sein langjähriger Nürnberger Sparten-Chef  mit Stolz kurz vor dem Tabellenende der imaginären Ersten Bühnen-Bundesliga sieht, also längst nicht so latent abstiegsverdächtig wie derzeit die Kicker-Kollegen. Das Publikum, behaupte ich mal, setzt dabei nicht auf Autoren und Regisseure (das kommt von der Theaterkritik oder der Intendanz), es verehrt die SchauspielerInnen, die „eigenen“ aus dem Stamm-Ensemble. Gerne auch mit dem Absolutionshinweis, dass die Mimen nicht dafür verantwortlich sind, was da alles auf der Bühne passiert. Ich hätte das voriges Jahr noch für ein Auslaufmodell der Legendenpflege in nachemanzipatorischen Theaterzeiten gehalten, aber neuerdings kursiert ja an vielen, deutschen Bühnen wieder das Klagelied unterdrückter Darstellungssklaven. In Nürnberg allerdings, speziell dem Nürnberger Schauspiel des großen Umarmers Klaus Kusenberg, hört man seit langer Zeit keine Beschwerden, hier werden Schauspieler sesshaft.

GEORG LEIPOLD: Das spielt sich ja in einem Dreieck von Interessen ab: Theater – SchauspielerInnen – Publikum. Der Schauspielberuf ist ein – sozial minimalistisch abgesichertes – Hire-and-Fire-Business. Stück- und Einjahresverträge bieten wenig Sesshaftigkeitsperspektiven. Publika lieben bekannte Gesichter: Stars. Und die „muss“ man immer wieder sehen. Es gibt schon auch Fälle, in denen ein Autor oder Regisseur als Star fungiert („Haben sie den neuen Pollesch schon gesehen? Großartig...“) und ganz selten auch Star-Stücke („Vagina Monologe“ etwa) – oft nur mit begrenzter zeitlicher Haltbarkeit.

DIETER STOLL: Ausnahmefall in Nürnberg: „Schweig, Bub“ von Fitzgerald Kusz.

GEORG LEIPOLD: Okay, zugegeben. Oder „Schellhammer“ von Helmut Haberkamm in Erlangen …

DIETER STOLL: ... als triumphaler Einzug der fränkischen Mundart in die offizielle Kunstfabrik mit Spuren bis zu „Lametta“, der bislang letzten Dialekt-Satire, noch 2017 auf der großen Bühne zu sehen. Ohne Schauspieler, die diese eigenartige Sprache samt der dazu gehörigen Gemütslage authentisch beherrschten, also nicht bloß in Komiker-Zuspitzung ausbeuteten, wären weder Kusz noch Haberkamm als plausible Theatermacher denkbar! Eine Berlinerin im Ensemble hatte ja bei der Ankündigung des zweiten Kusz-Titels „Derhamm is derhamm“ noch spöttisch gefragt, ob das ein türkisches Stück sei. Aber da hat das Theater ein Spielfeld eröffnet, das ziemlich schnell  an Grenzen stieß, weil ausschließlich Komödien funktionierten. Der einzige Kusz-Versuch mit einer fränkischen Tragödie im Geiste des unfröhlichen, britischen Kollegen Edward Bond, „Selber schuld“ hieß er, in den zum rustikalen Wirtshaus umgebauten Kammerspielen – und war sicher nicht sein schlechtestes Stück – hatte wenig Erfolg bei der „Alles ist lachbar, Herr Nachbar“-Fraktion. Da halfen der noch laufende Dauerbrenner im Spielplan und die frische Popularität des Autors nicht viel.

WIE EIN OBERBÜRGERMEISTER EINMAL SAGTE: WAS STÖRT, MUSS WEG

GEORG LEIPOLD: Meist trifft der Starkult Personen. Richtig. Medial darauf konditioniert, wollen viele „ihre“ Stars sehen. Wenn man die Möglichkeit hat, „seinen“ Lars Eidinger oder „seine“ Adeline Schebesch zu sehen, will man ihn/sie auch haben. Das alles funktioniert nur, solange sich das Gesamtsystem in einem stabilen Zustand befindet. Kritisch wird es, wenn sich relevante Faktoren ändern. Wenn zum Beispiel die Intendanz wechselt. Von „peaceful transit of power“ ist dabei ganz oft keine Rede. Der König ist tot, es lebe der König. Oder wie ein Nürnberger OB einmal sagte: Was stört, muss weg. In Nürnberg geht eine lange Direktion von 18 Jahren zu Ende. Das wird zu Verwerfungen im SchauspielerInnenverehrungsgefüge führen. Auf und vor der Bühne. Das einzig Beständige ist der Wechsel.

DIETER STOLL: Bekannte Gesichter lösen gemischte Gefühle aus, so ist das wohl auch hier. Manche Gesichter kann man gar nicht oft genug sehen, andere sind einfach nicht wegzudenken. Schauspieler als dauerhaft anwesende Identifikationsfiguren, deren Entwicklungsfähigkeit den Zuschauer besonders interessiert, womöglich überrascht, garantieren sicher einen gewissen Anteil der Lust am örtlichen Theater. Fragt sich nur, wie weit das über den Ausnahmezustand der mit echten oder selbsternannten Sachkundigen und jubelfreudigen Kollegen dicht besetzten Premieren hinausreicht …

GEORG LEIPOLD: Da die meisten Zuschauer nicht in Premieren, sondern in den Repertoire-Vorstellungen sitzen, wird man als Schauspieler leichter zur Identifikationsfigur, wenn möglichst Viele sagen, den oder die „muss man gesehen haben“. Und wenn man ihn oder sie immer mal wieder sieht. Das geht in kleineren Städten leichter als in größeren – auch deshalb, weil man diesen Mimen auch mal im Café oder im Supermarkt begegnet. Das mindert die Distanz, erleichtert die heimliche Ähnlichkeitsannahme wie die bewundernde Exotikentrückung und verstärkt die Bindung. Ich denke, es geht dabei eher um Wiedererkennung als um Wertschätzung von Entwicklungen und Vielfältigkeiten.

DIETER STOLL: Schon wieder um eine Illusion ärmer! Mist! Ich fände es doch so toll, wenn die Fans von Marco Steeger auf Unterschiede anspringen, je nachdem, ob er den Caliban im „Sturm“ zähnefletscht oder den flotten Bösen im „Rocky Horror“ tanzt. Und noch toller, wenn die Aufmerksamkeit für ein Ausnahmetalent wie Josephine Köhler, die ja wirklich niemand auf der Bühne übersehen kann, unwiderstehlich vom spektakulären Ganzkörpereinsatz zu ihrer subtileren Mimik schwenkt. Aber vermutlich ist das mit der „Wiedererkennung“ als dominierendem, überlagerndem Oberflächenreiz wirklich so ernüchternd: Wer also heute Michael Abendroth oder Jürgen Tarrach oder Melanie Wiegmann oder Adele Neuhauser daheim auf dem Bildschirm entdeckt, wird nicht zwangsläufig an ihre größeren, künstlerischen Leistungen  im Nürnberger oder Erlanger Schauspiel-Ensemble denken. Schade, denn es gab sie ja in jedem Fall. Aber wer geht eigentlich aus welchen Gründen ins Theater, als pauschal buchender Bildungsabonnent oder in elterlich verordneter Schulplatzmiete-Pflicht mit Pausenausstiegsoption? Oder gibt es, was ja besonders schön wäre, in großer Zahl die ganz bewusst auswählenden Besucher?

GEORG LEIPOLD: Bei 80 Prozent Aboauslastung – was ja im Grunde auf Blindbuchungen basiert – bin ich im Zweifel. Und wenn ich mich so umschaue, vor und nach der Vorstellung, und in der Pause manchmal Gesprächen am Nachbarstehtisch lausche, komme ich in unserer Region eher zu dem Urteil: LehrerInnen und andere Bildungskanonisten am Rande der Erwerbsarbeitsphase. Das ist zugegebenermaßen aber präfaktisch. Ich gebe weiter zu: es gibt auch andere Szenarien. Auch hier bei uns. Wenn auch selten. Und da ist dann ja auch immer noch die Frage, die sich bei Theaterbesuchen – ebenso wie beim FC Bayern München oder den Pittsburgh Steelers – stellt: Gibt es vor lauter Dauerkarten auch noch Platz für die Interessierten?

ENTERTAINMENT ALS EINZIGE GARANTIE?

DIETER STOLL: Wenn statistisch rund 120 frei bleibende Plätze pro Vorstellungstag laut Gesamtbilanz als Erfolg gewertet werden, müssten „die Interessierten“ schon noch Lücken finden. Es sei denn, sie sind ausgerechnet an der „Rocky Horror Show“ interessiert, dann wird es eng. Nehmen wir es mit Fassung zur Kenntnis: Entertainment ist in Nürnberg die einzige wirkungssichere Garantie für dauerhaft gefüllte Häuser. Wenn es geistreich bewältigt und handwerklich gut gemacht ist, hat das als markante Randerscheinung ja durchaus Berechtigung. Wer möchte nicht am liebsten gut gelaunt klüger werden! Aus diesem schmackhaften Placebo-Genre gibt es hier von „Sekretärinnen“ bis „Ewig jung“ samt den Varianten des britischen Edel-Boulevards jede Menge. Als zumindest gefühltes, heimliches Zweitzentrum des Spielplans, finde ich, unterfordert es das Publikum. Ich denke beim Nürnberger Schauspiel lieber an die Regie-Herausforderungen für Schauspieler und Zuschauer, an Hansjörg Utzeraths Hauptmann-Inszenierung „Rose Bernd“ oder seine Version von „Hitlerjunge Quex“, an Georg Schmiedleitners „Margaretha di Napoli“ und „Verbrennungen“, an Holger Bergs Kleist-Entschlackung „Familie Schroffenstein“, an Kathrin Mädlers „Ermittlung“ nach Peter Weiss, vor allem aber an Stefan Ottenis Handke-Inszenierung „Immer noch Sturm“ mit dem Wortführer Thomas Nunner an der Spitze. Das waren – und sind bis in die Gegenwart – grandios eigenartige, den engen Rahmen der Konvention sprengende und von Schauspielern geprägte Aufführungen, allesamt wie man so schön sagt „gut besucht“, aber in der Vorstellungszahl weit weg von den Bestsellern – und in der Langzeitwirkung der Spielplan-Präsenz eindeutig beschränkt.

GEORG LEIPOLD: Also mit Entertainment der beschriebenen Art auf den Bühnen habe ich überhaupt kein Problem. Ganz im Gegenteil. Verglichen mit gleich benamten Angeboten des TV-Regelbetriebs oder des Mainstream-Kinos sind das ja regelrechte Perlen. Und – ich gebe zu, das ist der alte Optimist in mir – es kommen Leute ins Theater, die sonst nicht kommen und dadurch vielleicht ein wenig angefixt werden. Hope never ends. Dass dieses Theater nicht alles und auch nicht zentral sein darf – da bin ich uneingeschränkt bei Ihnen und Ihren Tops. Ich würde darüberhinaus gerne aber auch an Adeline Schebeschs großes Solo in Eve Enslers „Vagina Monologe“, Frank Behnkes „Alte Meister“ nach Thomas Bernhard oder an Andreas Hänsels Werner-Schwab-Inszenierung „Präsidentinnen“ in Erlangen erinnern – die, nur am Rande „entertaining“, großartiges Schauspieler-Theater UND lang anhaltende Nachfrage boten. Es geht doch ... wenn auch selten.

DIETER STOLL: Eigentlich zielt alle Skepsis darauf, welches Gewicht die Arbeit auf der Kulturinsel „Theater“ für die ganze Stadtgesellschaft hat. Das war vor 50 Jahren schon deshalb anders, weil die Freizeitindustrie übersichtlich blieb, das brave Stadttheater nur gegen das Kino konkurrierte, gleichzeitig aber für‘s ganze Spektrum von Klassiker-Pflegschaft und Familienunterhaltung über die Schulstoffbegleitung bis zur Avantgarde-Ahnung als Servicebetrieb verpflichtet schien. Nahezu nichts unmöglich von Curt Goetz‘ Schmonzette „Der Lügner und die Nonne“ über Schillers dröhnenden „Wallenstein“ bis Ionescos Absurden-Rätselei um „Die kahle Sängerin“. Alles aus einem und in einem Topf. Das war ziemliches Gewurstel, so aus der gesammelten Erfahrung mit weit mehr als früher geforderten Darstellern betrachtet, aber es war eben eine Art gesellschaftlicher Krawattenbindung. Dieser Knoten ist durchschlagen, an den Fetzen basteln nun alle Beteiligten mit neuen Schleifchen herum. Eine komplexe Bewegung.

SKANDALE MIT DEM GEWISSEN „HALLO, WACH“-EFFEKT

GEORG LEIPOLD: Das Theater kämpft um seinen Platz. Wie Museen auch. Warum soll man hingehen, wenn man es bequemer, billiger, einfacher, schöner, bunter, schneller und vor allem jederzeit verfügbar auch anders haben kann. Kann man? Das Theater war mal ein „Gesellschaftsort“, ein Ort, an dem man sich (mit anderen) traf. Fast egal, was da gezeigt wurde. Zeigen die steigenden Abozahlen, die monatlichen Treffen „Gleichgesinnter“, erneut auf ein solches Bedürfnis? Meetings „gut Gekleideter und Gestimmter“ in verstörungsfreiem Ambiente – denn erschrecken kann uns eh nichts mehr?

DIETER STOLL: Schade eigentlich! Der „Skandal“ hatte doch immerhin oft den gewissen „Hallo, wach!“-Effekt. Ich erinnere mich, wie das um die Hauptstützpunkte von Gedanken- und Textilfreiheit waberte. Da reichte ja schon ein Meer von roten Fahnen im Stück „Toller“ für Buh-Konzerte, vor den zwei Groß-Mimen Hannes Riesenberger und Peter Pichler wurden Abonnenten schriftlich gewarnt, weil sie in Fernando Arrabals gespenstischer Groteske „Der Architekt und der Kaiser von Assyrien“ nackt auftraten. Nachträglich hat man den Mut der Schauspieler bewundert – und sich ein bisschen dafür fremdgeschämt, wie eng der Horizont von Stammbesuchern sein konnte. Jutta Richter-Haaser etwa musste sich noch nach der Jahrtausendwende, als sie in Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ eine ordinäre Trafikantin angemessen rabiat spielte, von Fans die mitleidige Frage anhören, ob sie der Regisseur dazu gezwungen habe. Sowas hat sich Schritt für Schritt erledigt, ein nackter Schauspieler wie bei Arrabal ist jetzt kein größerer Skandal als ein lispelnder, gäbe es noch rote Fahnen, wäre das auch kein Problem. Heute könnte es allerdings ein Fortschritt sein, wenn die Zuschauer wieder mehr Zutrauen zur eigenen Meinung fänden und nicht alles gleichmäßig abnicken. Ansonsten: Skandal darf nicht geplant sein, Irritation schon!

GEORG LEIPOLD: Es gibt den schönen Satz von Ralf Dahrendorf: „Was nicht kontrovers ist, ist nicht der Rede wert“. Irritation SOLL sein – das ist ja einer der Grundgedanken eines öffentlich finanzierten Kulturangebots. Und wenn das Nach-Denken des auf den Bühnen irritierend Gesehenen darüberhinaus zur Wertestabilisierung unserer Welt (durch die gezeigten Beispiele und Gegenbeispiele in „möglichen Welten“) beiträgt – umso besser. Ich frage mich: Werden die harmoniesüchtigen Generationen der Digital Natives dem Zivilisationsprojekt Theater den Garaus machen oder wird sich das Theater als Flucht- und Zufluchtsort in der schrumpfenden analogen Welt erhalten?

SPIELRAUM FÜR DEN NÄCHSTEN AUFSCHWUNG

DIETER STOLL: Ich glaube allen Ernstes an die Möglichkeit zum großen Comeback für‘s Theater – nicht als Zufluchtsort für Sonderlinge, sondern als alternatives Spielfeld für Gedanken, die im Treibhaus der Facebook-Clip-Kultur unter‘m dort allzu üppig mitwuchernden Unkraut verkümmern. Momentan ist es so, dass die Einschätzung von „Theater“ in der Öffentlichkeit, sei es hier bei uns auch unter‘m wohlwollend gemeinten Schulterklopfen der veröffentlichten Feuilleton-Meinung, etwas lahmt. Unumstritten ist seine Bedeutung an der Meinungs-Börse nicht. Nach Ende der nächsten Krise wäre aber sicher wieder Spielraum für Aufschwung. Sie als trainierter Kulturpolitiker im Nürnberg/Erlanger Großraum müssten doch einschätzen können, ob die Politik diesen alljährlich nötigen Millionen-Brocken des Haushalts für die Erhaltung des Betriebs gegen immer mal wieder anschwellende Angriffe auf Existenzgrundlagen dauerhaft abschirmen, das Theater als tragende Säule der Stadtkultur aus Überzeugung ganz grundsätzlich erhalten wird …

GEORG LEIPOLD: Es ist noch nicht so lange her, da wurde in unserer Region von PolitikerInnen die Auflösung des eigenen Ensembles in Erlangen, der Bau eines Musicaltheaters (bei gleichzeitiger Kürzung der Mittel für das Städtische) oder der Verzicht auf Schauspiel-Eigenproduktionen und ihr vollständiger Ersatz durch Gastspiele in Nürnberg oder die „Komödie“sierung des Theaters Fürth gefordert – und zwar nicht nur von Hinterbänklern oder machtverliebten Mehrheitsbeschaffern. Da war zu solchen Vorschlägen auch des akklamativen Schweigens ganze Schwere aus den ersten Reihen unüberhörbar – auch wenn manche der dort Sitzenden das heute nicht mehr wahrhaben wollen. Ich bin skeptisch. Wir haben in unseren Breiten zwar nicht die riesigen, kommunalen Nöte, die Theaterschließungen früher oder später nach sich ziehen, aber das muss nichts heißen. Emotionen als Basis für Haltungen und Entscheidungen sind wieder in – like it or dislike it.

ERFÜLLT DIE „KULTURSTADT“ ALTE TRÄUME?

DIETER STOLL: Es gab ja mal den naiven Traum, die Theater in Nürnberg, Fürth und Erlangen wie Vorreiter der Metropolregion-Verbrüderung in einem gemeinsamen Konzept zu verbinden. Das wurde ein bisschen andiskutiert und schnell haben sich alle hinter ihren Gartenzaun zurückgezogen. Es geht also doch nicht um Optimierung von Kunst in allen Facetten, mehr um das Theater als Eigenheim. Oder kann 2025 eine „Kulturstadt Europas“ neu ansetzen? Wäre ja eine Perspektive!

GEORG LEIPOLD: Wissen Sie, wenn schon eine gemeinsame Überwachung des ruhenden Autoverkehrs daran scheitert, dass leuchtende Kirchtürmler es „ihren BürgerInnen“ für nicht vermittelbar halten, an den Uniformen der Kontrolleure nicht das eigene Stadtwappen zu sehen, dann halte ich es für ausgeschlossen, über ernsthafte Kooperationen zwischen den Theatern der Region nachzudenken.

DIETER STOLL: Eine Theater-Reform ist mit Sicherheit das Gegenteil von ruhendem Verkehr …

GEORG LEIPOLD: Dass das sinnvoll wäre, steht für mich außer Frage. Es wäre aber eine ungemein anspruchsvolle Aufgabe, künstlerische Freiheit, Ressourcenbündelung, Qualität, gleichberechtigte Freude an Eigenem und Lust auf Fremdes und Kooperation in gegenseitiger Wertschätzung in einem breit getragenem Zusammenarbeitskonzept zu fassen. Und das wäre dann auch mal eine Gelegenheit, die allseits als besonders in den eigenen Köpfen dingfest geglaubte Offenheit (wer, wenn nicht wir sind dem „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire“ verpflichtet …) einem Elchtest zu unterziehen. Ich vermute, auch die „Kulturstadt Europas“ wird die Welt der zerebralen Eigenheime nicht aufbrechen.

DIETER STOLL: Vielleicht muss man den Fortschritt wieder mehr im kleineren Format suchen, vielleicht schäumt dann die nächste, erfrischende Gründerwelle von noch nicht absehbaren „freien“ Alternativen heran. Da wurde bei der vorigen unter günstigen, kulturpolitischen Rahmenbedingungen einiges in Bewegung gesetzt vom Gostner Hoftheater über die Tafelhalle bis zu den Kindertheatern. Das waren Initiativen, jetzt sind es Institutionen – und hinterlassen auf freiem Feld eine Lücke …

GEORG LEIPOLD:  ... und haben ihr Publikum gefunden. Und müssen sich anstrengen, weiterhin wahrgenommen zu werden. Die Probleme sind die gleichen wie an „großen“ Häusern. Nur die Existenzsorgen sind größer. Jahrzehnte der Selbstausbeutung hinterlassen ihre Spuren im Rentenbescheid. Und was passiert, wenn Gründermütter und -väter ausscheiden? Ob eine neue Generation von kulturellen Existenzgründern und Start-ups in der regionalen Theaterwelt aufzieht? Dafür sehe ich im Moment wenig Anzeichen. Ich sehe aber auch kaum kulturpolitische Rahmensetzungen, die solche Möglichkeiten neu schaffen. Bestandssicherung hatte schon immer die stärkere Lobby.

ALS SCHAUSPIELER HORST W. BLOME DIE STADT AUFMISCHTE

DIETER STOLL: Früher mal, lang ist‘s her, gab es in Nürnberg den linken Theatermacher und Aktivisten Horst W. Blome, Polit-Performer würde man ihn heute wohl nennen, der an seinem Neuen Theater in der Luitpoldstraße und zusätzlich mit seinem dortigen Kabarett „Hintertreppe“ agitierte, bis einige Stadträte wüteten und das Ordnungsamt pflichtbewusst auf seiner verinnerlichten Basis von „Ordnung“ und „Amt“ eingriff – und auch am Schauspielhaus wurden schon mal Ensemblemitglieder wegen aktuellen, politischen Äußerungen auf städtischem Kunstgelände entlassen oder Texte gegen den Widerstand des Ensembles ins Unverbindliche abgebogen. Das gibt es so autoritär wohl nicht mehr, ich rühme diesen Fortschritt ausdrücklich, aber Schauspieler können mit Hilfe der Direktion bei Protestbedarf ohnehin auf der sicheren Seite stehend stets Elfriede Jelinek abrufen, also Kunst mit Haltung, immerhin Nobelpreis. Oder bräuchten wir die „Mimen“ wieder mehr über die Aufführung hinaus, berufsbedingte Menschenforscher als öffentlich wahrnehmbare Meinungsträger in der Stadt?

GEORG LEIPOLD: Ich denke gerne an Blome. Heute kann man sehen, wieviel „Aufbruch“ da erlebbar war. Um aber nicht in Erinnerungen hängen zu bleiben: Werten wir doch mal aktuelle Nürnberger Unternehmungen wie „Talking about Borders“ oder speziell das Armenien-Projekt als bemerkenswerte Zeichen, dass „politisches Theater“ auch heute stattfindet. Es wäre dringend nötig, dass Künstler, als Erforscher möglicher Welten, mit ihren Werken, durch die sie ja ein „Deutungs-angebot von Welt“ machen, im gesellschaftlichen Diskurs stärker wahrgenommen werden. Sie sind selbstredend keine säkularen Päpste. Aber sie „zeigen“ etwas.

DIETER STOLL: Was können sie denn zeigen?

GEORG LEIPOLD: Die breiten zivilgesellschaftlichen Denkströme brauchen Ergänzungen, Widerborstigkeiten, Aneckungen, Anregungen. Kunst kann das liefern. Kunst kann das andere „Was ist?“, das andere „Wie ist es?“ zeigen. Wortkünstler hätten darüberhinaus die Chance, die ihrer Arbeit entspringende Qualität des sorgfältigen, reflektierten Umgangs mit Sprache zu nutzen, um herrschendes Geblubber und Gelaber in öffentlichen Diskursen zu brandmarken. Es würde uns allen helfen, klarer zu sehen und deutlicher zu hören, welche Sprachspiele gespielt werden. Es wäre ein Beitrag zum großen Projekt „Aufklärung“.                                                                                                                                    

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DR. GEORG LEIPOLD leitete von 1988 bis 1996 das Kulturamt der Stadt Erlangen und war von 1996 bis 2002 Schul- und Kulturreferent der Stadt Nürnberg.

DIETER STOLL leitete von 1972 bis 2009 das Kultur-Ressort der Abendzeitung Nürnberg und ist aktuell Kritiker u.a. für das Theatermagazin Die deutsche Bühne (Köln) und das Internet-Portal nachtkritik.de (Berlin) sowie Theaterkolumnist für CURT und Autor der Theatertipps im Straßenkreuzer.

Die ungekürzte Fassung des Gesprächs erscheint Ende Oktober im Buch „Die ganze Welt ist Bühne – Theaterlandschaft Franken“ in der Buchfranken-Reihe des Schrenk-Verlags. Mit Beiträgen u.a. von Fitzgerald Kusz, Jutta Richter-Haaser, Friedrich Schirmer, Jutta Czurda, Thomas Witte, Adeline Schebesch, Winni Wittkopp, Thalias Kompagnons, Klaus Kusenberg und Michaela Domes.


 




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