Habe die Ehre!

SAMSTAG, 1. JULI 2017

#Dieter Stol, #Kolumne, #Kultur, #Opernhaus, #Staatstheater Nürnberg, #Theater, #Theater Erlangen

Frisch gespuckt ist halb gewonnen: Der "Theater-curt" für die Besten der Saison in und um Nürnberg ...

Alles hat seinen Preis, sagt der Volksmund – und meint es nicht unbedingt nur freundlich. Aber man kann den Spruch auch mit kühnem Griff wenden und heiter darauf hinweisen, dass heutzutage jede Kultursparte erst durch Auszeichnungen aus der Masse der Angebote aufsteigt und ihren Mehrwert an öffentlicher Aufmerksamkeit sichert. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, jeder hat was davon. Da wimmeln international die (unfreiwilligen) Namenspatronate querfeldein. Über allem thront natürlich Hollywoods OSCAR, drunter gruppieren sich unter anderem CESAR (Frankreich), ROMY (Österreich), GOYA (Spanien), EMMY (USA) und BAMBI (Deutschland).

Dabei geht es um luxuriöse Konserven, um Glamour am Traumfabrik-Fließband von Kino und TV – doch die ganz andere Live-Kunst des Theaters, immer frisch gespuckt und neu gewonnen, schwingt ihre Pokale auch nicht schlecht. TONY (USA), MOLIERE (Frankreich), NESTROY (Österreich) und natürlich alljährlich DER FAUST für deutsche Anleitkultur, von den Intendanten höchstselbst zur Spiegelung der eigenen Bedeutung erfunden. Wir haben uns im Vorjahr erstmals spielerisch hochstapelnd an das Monument des Deutschen Bühnenvereins angelehnt und mit Blick auf die regionale Szene „den kleinen Däumling vom Faust“ ausgerufen – den „Theater-CURT“.

Am Ende der Saison 2016/2017 hier das Dacapo – die Nominierung diverser Personen und Ereignisse als aktuelle Spitzenwerte, selbstverständlich absolut subjektiv. Alsdann: Habe die Ehre!


(1) OPERN-AUFFÜHRUNG
Georg Schmiedleitners Inszenierung des Wagner-Vierteilers DER RING DES NIBELUNGEN als kompletter Zyklus – auch weil Ausnahmesänger wie Antonio Yang (Alberich, Wotan), Rachael Tovey (Brünnhilde) und Vincent Wolfsteiner (Siegfried) geballt im Einsatz waren und unter den Umbesetzungen Tilmann Unger (Loge, Siegmund) in diese Sonderklasse aufstieg. GMD Marcus Bosch hat das Mirakel der Wagner-Partitur zunehmend mit bewunderswert lockerer Hand durchleuchtet, und wenn ihm dabei auch in der Endabrechnung etwas von der Magie seines Nürnberger „Ring“-Vorgängers Philippe Auguin fehlte, sein „Nibelungen“-Zyklus ist ein denkwürdiger, in sich schlüssiger Wurf. Was man auch für die Regie sagen kann. Schmiedleitners ambitionierte Deutung, manchmal grob zupackend und zwischendurch im Leerlauf strampelnd, hatte klare Linien und überwältigende, alle Einwände überlagernde Momente. Der Allerschönste: Wie die göttliche Brünhild von Bräutigam Siegfried direkt aus den überirdischen Träumen zur Notlandung auf‘s spießbürgerliche Sofa gelenkt wird – das war epochale Satire, die bei Wagner so noch keiner vorher entdeckte.

(2) SCHAUSPIEL-AUFFÜHRUNG/DRAMA
Ein Wiedersehen, das es in sich hat: Zehn Jahre nach der tragischen Trennung trifft in Lot Vekemans GIFT – EINE EHEGESCHICHTE das Paar wieder aufeinander. Alte Konflikte durchstoßen die dünne Folie scheinbarer Versöhnung, im lauernden Dialog-Duell brodelt die unbewältigte Vergangenheit. Imponierend, wie gelassen die Jungregisseurin Christina Gegenbauer die Bühnenpräsenz von Adeline Schebesch und Michael Hochstrasser als Guthaben der Inszenierung nutzt. Wenige, vorsichtig eingesetzte Inszenierungsakzente und volles Vertrauen auf die Eigendynamik von Schauspielkunst. Das Ergebnis ist überzeugend, es bringt tiefgründiges Theater ohne Knalleffekte.

(3) SCHAUSPIEL-AUFFÜHRUNG/KOMÖDIE
Manche hielten das ja nach der Uraufführung am Kurfürstendamm für eine Komödie, die nur in Berlin funktionieren kann, doch dieser Vorbehalt war einst schon bei LINIE 1 ein Irrtum. Marius von Mayenburgs STÜCK PLASTIK aus dem Leben der desorientierten Vernissagen-Philosophen nahe Prenzlauer Berg findet auch in Gostenhof die richtigen Adressaten. Die Zeitgeist-Satire, die zum nicht allzu begrenzt ansetzenden Rundschlag ausholt, hat auch für den Zuschauer viel Selbstbespiegelungspotenzial. Stephan Thiels Inszenierung im Gostner mit dem bestens aufgelegten Ensemble (Helwig Arenz, Christoph Schüchner, Barbara Seifert, Lena Stamm; Thomas Witte) kann es mit der Schaubühnen-Produktion aufnehmen. Im November ist sie wieder zu sehen.

(4) SÄNGER
Eigentlich ist JOCHEN KUPFER die auch nach Nürnberger Dienstjahren sicherste Größe des Ensembles. Ein Sänger der gehobenen Oratorienklasse (Brahms, Bach), der mit Bariton-Balsam bei Mozart-Opern überzeugt und souverän Ausflüge zu Wagner bewältigt: Er hat die Herausforderung als Alban Bergs WOZZECK angenommen. Theoretisch fast zu schönstimmig nach üblichen Maßstäben dieser Jahrhundert-Partie fand der Bariton den eigenen, geradezu leichtfüßigen Zugang. Eine Interpretation, die viele Aspekte der schillernden Figur in neues, milderes Licht rückte, das Mitgefühl für die verlorene Seele aus anderem Blickwinkel motivierte. Und beiläufig die nach wie vor „moderne“ Komposition in aller vokalen Vitalität erblühen ließ.

(5) SÄNGERIN
Ohne Erinnerung an die Callas ist diese Belcanto-Partie im Grunde nicht zu haben. Doch die Nürnberger Sopranistin HRACHUHÍ BASSÉNZ singt als Bellinis NORMA ganz anders und absolut überzeugend. Sie erobert die in allen Facetten blitzende, jeder Schattierung folgende und keinen artistischen Aufschwung scheuende Partie mit ihrer reizvoll dunkel timbrierten Stimme, unterläuft bloße Furien-Dramatik durch artifiziell entwickelte Stimmungswerte und ist so auf dem Weg, eine der großen Interpretinnen der Gegenwart für diesen Sonderfall der Opernwelt zu werden. In Nürnberg wird man sie wohl nur noch kommende Saison erleben. Schade, dass hier eine matte Inszenierung sie nicht noch mehr herausforderte.

(6) SCHAUSPIELER
Ein Komiker-Sidekick im Klamauk-Tumult als Auftritt des Jahres? Oh ja! THOMAS NUNNER spielt in PENSION SCHÖLLER, dieser hundertjährigen Kölner Karnevalskomödie ohne höhere Absichten, die kauzige Rolle eines jungen Mannes, der unter wackerer Ignorierung des eigenen Sprachfehlers eine Karriere als rezitierender Schauspieler („knassisch“ natürlich, am liebsten „Kabane und Niebe von Schinner“) anstrebt. In der Inszenierung der eher für ernsthaftes Theater gerühmten Bernadette Sonnenbichler wird das von Kalauern umstellte Jux-Porträt ausgebaut zur Hommage an ein wunderliches Moppelchen, das im Kampf mit Konsonanten und Kalorien auch aufleuchtende Augen bekommt, wenn in der Imbissbude bei den gnadenlosen Varianten von Cevapcici zum jederzeit willkommenen Zugabe-Speck auch „Nutenna“ geboten wird. Nunner versenkt sich so vorbehaltlos, hingebungsvoll in die Details des verblühenden Blödsinns, dass dies allein schon die Aufführung wert ist.

(7) SCHAUSPIELERIN
Sie gehört seit etlichen Jahren zum Nürnberger Schauspiel-Ensemble, hat als begabte Zeichnerin mehrfach in Bühnenbildern Eindruck gemacht, wurde zwischendurch aber wohl dennoch schlichtweg unterschätzt. Als Blutgräfin in Nino Haratischwilis schwarzromantischer Tragikomödie SCHÖNHEIT hat NICOLA LEMBACH alle Gelegenheit, ihre Talente zu entfalten. Sie nutzt sie, wenn sie im Kampf gegen das Altern wie ein weiblicher Vampir bei der Entdeckung der Wechseljahre Auffrischung durch junges Blut sucht und dabei ihr wirkliches Liebesleben geradezu rührend gefühlskalt verpasst. Die Schauspielerin, darstellerisch und mit dem Zeichenstift jederzeit „im Bild“, erreicht den Schwebezustand, der die vom Jugendwahn befallene Gräfin Erzébet Báthory gleichzeitig als Ver- und Entrückte zeigt. Lachhaft und traumverloren.

(8) BÜHNENBILD
Der im schäbigen Hausflur hereinragende rostige Eisenträger ist erst das trostlose Symbol verkommener Lebensräume und nach einem Dreh der Bühne plötzlich auf der anderen Seite luxuriöses Zeitgeist-Design im schicken Loft. ANDREAS BRAUN schuf für Ayad Akthars subtil in verdeckten Gefühlen stochernde Migranten-Tragödie GEÄCHTET, die nach ihrem spektakulären Broadway-Erfolg die deutschen Spielpläne etwas gedämpfter eroberte, im Fürther Theater eine Bühne, die schnell auf den Punkt kommt. Prägnanter als Barish Karademirs denn doch bloß clevere Inszenierung baut sie in schroffem Gegenbild die beiden Ansichten einer Medaille. Ihr radikaler Kontrast, gleichzeitig ein Hinweis auf die Widersprüchlichkeit des ersten oberflächlichen Eindrucks, war die richtige Vorgabe.

(9) BALLETT
Wenn man am erfolgreichen Nürnberger Ballettchef Goyo Montero etwas vermisst, dann sicher den spielerischen Umgang mit Humor. In seinen eigenen Tanzstücken ist wenig von solchem, qualifizierten Leichtsinn zu spüren, aber er bleibt souverän genug, den dafür besonders begabten Gästen die Tür weit aufzuhalten. Was vor Jahren schon dank Jiri Kylians Leihgabe gelang, machte diese Saison mit Mauro Bigonzettis Teil des Doppelabends MONADE nach Musik von Ottorino Respighi am Opernhaus glücklich: ANTICHE DANZE. Da explodierte in knapp 30 Minuten das Temperament, da sprühte der Witz, da sprudelten die choreographischen Ideen. In der zweiten Hälfte des Abends ging es zurück zur Stimmungslage „Montero“ – und in dieser Kombination war es dann gut so.

(10) MULTIKÜNSTLER
Er kann alles! Manches davon einfach unbeschreiblich genial. Der grade mal 30-jährige österreichische Multi-Künstler NIKOLAUS HABJAN (phänomenaler Puppenspieler, Puppenbauer, Darsteller, Sänger, Stückeschreiber, Regisseur, praktizierender Pfiffikus) mit seinen zwei hinreißenden Stücken F. ZAWREL – ERBBIOLOGISCH UND SOZIAL MINDERWERTIG und SCHLAG SIE TOT, dazu einer ambitionierten „Faust“-Regie aus Graz und der Kunstpfeifer-Matinee „Ich pfeif auf die Oper“ mit spitzem Mund und Klavierbegleitung im Mai beim Figurentheater-Festival in Erlangen und Fürth sowie beim Erlanger Schlossgartenkonzert. Solche Talente kann man nur bestaunen. Mehr davon!

(11) EXTRA-CURT
Wenn der vorgesehene Tenor-Protagonist nach wochenlangen Proben eine Stunde vor der Premiere von Bellinis Opern-Rarität NORMA seine Stimme komplett verliert und eine Zweitbesetzung für die selten realisierte Rolle gar nicht geplant ist, hört man die Vorstellung förmlich „platzen“. In Nürnberg brachte der einstudierte Sänger keinen Ton mehr heraus, der Intendant dachte schon über eine Rede ans frustrierte Publikum und das Kassen-Defizit nach, da meldete sich der junge ILKER ARCAYÜREK aus der Garderobe. Er stand für eine kleine Partie dieser Vorstellung bereit, hatte von der Hauptrolle allenfalls bei den Proben des Kollegen etwas mitbekommen und sattelte jetzt spontan zum Husarenritt. Er bot sich an, „vom Blatt“ zu singen. Ungläubiges Staunen über diesen Mutanfall – und dann die Realisierung. Alcayürek sang (zur pantomimischen Darstellung des Kollegen) am Notenpult die ihm weitgehend unbekannte Rolle so souverän, dass die mit Spannung erwartete Premiere unter der Leitung von Marcus Bosch unfallfrei über die Bühne gehen konnte. Ein Kombi-Wunder von Musikalität und Nervenkraft. Respekt!


Den Däumling vom FAUST, den Theater-CURT, gibt es nicht. Aber gut, dass wir drüber geredet haben.




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