Segensgrüße aus der Datenbank
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Ein Fest für Atatürk – Am Nürnberger Staatstheater bastelt ein Festkomitee für 2023 an der deutschen Hundertjahrfeier der türkischen Republik.
Zeit kennt keine Religionen, sie springt zur Beschreibung eines säkularen Staatsgründers und seiner muslimischen Erbschleicher nicht viel anders als bei der katholischen Echternach-Prozession, die dauernd vorwärts und (nicht vergessen!) zurück geht. So ist das auch bei diesem Recherche-Projekt mit Theater-Maske, das „Ein Fest für Atatürk“ genannt wird und mit deutscher Gründlichkeit die Segnungen der Datenbank plündert.
„Die Zeit springt“ ist wiederkehrende Regieanweisung, was „Lichtwechsel“ bedeutet. Es geht um 1923 und die Folgen, denn wir schreiben das Jahr 2023 in Berlin und dort, wo laut Vorspann-Information (die schönste Frechheit im Text darf leider nicht auf die Bühne) eine Koalition aus CDU, Grünen und AfD durchregiert, wird das Kultur-Event zur Hundertjahrfeier der türkischen Republik spendiert. Gewidmet der „deutsch-türkischen Gemeinde“. Staatstragende Geste des guten Willens, die ER aus Ankara in postböhmermannschen Zeiten womöglich persönlich entgegennimmt, was schon wegen der neuen Weltlage allseits begrüßt würde. Inzwischen ist nämlich die Türkei im Bündnis mit China, Russland und Saudi-Arabien auf der Höhe der Machthaberei. Deutschland verdient weiterhin nicht schlecht dabei, muss sich halt anständig benehmen gegenüber den Großen. Da kann Kultur schmücken: Casting-Algorithmen der Künstlerdatei bestimmen die Auswahl der Jubelakteure, die unter der Leitung von Leyla, der deutsch-türkischen Frau aus der klemmenden Multikulti-Schublade, unter leichten Gewissenszuckungen Programm entwerfen. Fazil Say zum Beispiel passt nicht. Solche Abmahnungen ergeben Schock-Momente von Unterzucker-Agonie, zumal zuvor, wie die Geisterstimme aus dem wachsamen Computer moniert, die Frühstücksbrötchen vergessen wurden - vom Berliner Bäcker aus der Horst-Köhler-Allee 57. Der präsidiale Witz grüßt aus dem Detail.
Zunächst hat Mustafa Kemal Atatürk persönlich das Wort. Der sehr gläubige Schauspieler Yunus Seven (Stefan Drücke spielt den emphatischen Konvertiten in Aufbrausungs-Standby) trainiert mit Kreidestimme dessen Aufruf an die „türkische Jugend“, Schul-Pflichtlektüre mit Lobpreisung der „Unabhängigkeit“ und Diagnose von „edlem Blut“ in den passenden Adern. Er selbst verehrt aber den neuen Staatschef, nicht den alten, wird am Ende dennoch in Atatürk-Maske wiederkehren, wortlos. Jetzt aber trudeln die andern Akteure ein, mit Zweifel im Handgepäck.
Ursprünglich sollte Tugsal Mogul, Doppelbegabung als Arzt und Theatermacher in Münster (sein „Theater Operation“ hatte bundesweit Erfolg u.a. mit „Halbstarke Halbgötter“), ein Stück entlang an eigenen Wurzeln mit dem Arbeitstitel „Atatürks Erben“ schreiben und inszenieren. Geplant war das schon im Sommer 2015, lange vor dem Putschversuch, und seine Absage Anfang 2017 aus „gesundheitlichen Gründen“ hat mit der für ihn schwer auszuhaltenden Nähe zur erlebten Realität zu tun. Es wäre wohl ein ganz anderes Stück geworden – emotionaler sicher. Das verbliebene Nürnberger Team (Dramaturgin Friederike Engel und Jung-Regisseur Akin Isletme verantwortlich auch für den fliegenden Konzept-Wechsel) war so klug, solch direkte Betroffenheit nicht zu simulieren. So anmaßend ist die Aufführung nie. Zu sehen sind jetzt fünf Schauspieler als Schauspieler, keine gebrochenen aber angeknackste Charaktere, die den zugewiesenen Kultur-Job in deutschem Fleiß angehen. Während sie mit verteilten Rollen türkische Poesie zu Feierstunden-Häppchen umformen, auch wunderbar Hikmet-Lyrik singen, schleicht sich wie ein Schatten das Unbehagen ins Probenquartier, wo ein tönendes Wikipedia-Monster jedes Stichwort mit Informationslawinen überrollt. Diese allgegenwärtige Geisterstimme, die spontane Regungen verwischt, ist wie ein Stalking-Phänomen inszeniert – und wird zeitweise auch eins für die Aufführung. Denn das Regie-Team hat durchaus den Ehrgeiz, dem Publikum die mitgebrachten Talkshow-Gewissheiten durch wohlmeinende Fakten-Attacken aus der Hand zu schlagen. Das kann nur bedingt gelingen, weil die wahre Stärke des Abends im ehrlich gezeigten Gefühl von Künstler-Ohnmacht liegt. Wo der Aussteiger Maximilian (Julian Keck) seiner längst nicht mehr an ihre Berufung glaubenden Gruppenleiterin Leyla (Ruth Macke) die Warnung vor „der Ermordung der Wahrheit“ wie ein Testament hinterlässt, ist dieses Projekt ganz bei sich. Es endet zwangsläufig mit „Schweigen“ und ist plötzlich Drama.
Schauspielkritik von Dieter Stoll
für das Kritiken-Portal www.nachtkritik.de (Berlin)
Ein Fest für Atatürk
Rechercheprojekt/Stückentwicklung
Konzeption: Friederike Engel (Textentwicklung und Dramaturgie), Akin Isletme (Inszenierung).
Bühne und Kostüme: Ayse Özel
Licht: Günther Schweikart
Mit: Ruth Macke, Bettina Langehein, Stefan Drücke, Julian Keck, Philipp Weigand
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.staatstheater.nuernberg.de
Weitere Vorstellungen
11.06.2017 – 20.00 Uhr
14.06. 2017 – 20.15 Uhr
21.06.2017 – 20.15 Uhr
08.07.2017 – 20.15 Uhr
18.07.2017 – 20.15 Uhr
Weitere Vorstellungen ab November in der neuen Saison.
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