Freie Bahn für Show-Spieler und Kinohelden
#Dieter Stoll, #Kultur, #Musical, #Theater
Das „Sommertheater“ sortiert sich neu: Neun Musicals als Schwerpunkt 2017, Luther kämpft mit Don Camillo um Gläubige und im Fichtelgebirge beschimpft ein Intendant persönlich die Gesellschaft. Versuch eines Durch- und Überblicks von Dieter Stoll.
Es wird wieder höchste Zeit für Trennungsbeschlüsse: Wie jedes Jahr ab Mitte Juni kommen die regionalen Theaterfreunde über fränkische Sprachgrenzen hinweg an den Punkt, wo sie sich für einen Richtungswechsel entscheiden. Sie müssen nicht, aber sie wollen. Während ihre Stadttheater daheim (= derhamm, dahoam) bei der letzten Runde überwiegend nur noch Alt-Abonnenten und Schulplatzmieter mit ihren pauschal gebuchten Zwangsvorstellungen erreichen, lockt die Acht-Wochen-Saison der „Festspiele“ zur vorübergehenden Neuorientierung im besonnten Ausnahmezustand. Freilich bedarf es dafür zunächst der Analyse eigener Erwartungen, denn unter dieser unendlich weit gefassten und gerne auch ein wenig hochstaplerisch eingesetzten Marketing-Rubrik machen es sich die luxuriösen Events der hochpreisigen E-Musik-Klasse (Bayreuther Festspiele, Mozartfest Würzburg) ebenso bequem wie volkstümlich gemeinte Freilicht-Spektakel in Wald und Flur (Wunsiedel, Dinkelsbühl) oder an historischen Fassaden (Feuchtwangen, Bamberg). Es wird feste gespielt, aber ob es wirklich immer Festspiele sind? Eine Frage des Geschmacks (über den sich bekanntlich nicht streiten lässt) und des Kontostandes (der auch nicht so leicht wegzudiskutieren ist). Das imaginierte Kultur-„Navi“, auf persönliche Bedürfnisse eingestellt, sucht sich den passenden Weg. Lassen wir also die Hochpreisklasse beiseite, richten wir den Blick aufs freie Bühnenfeld.
Zunächst Frohe Botschaft für die Verbindung von Ökumene und Ökonomie: Ob auf der breiten Kirchentreppe von Schwäbisch Hall, im Kreuzgang von Feuchtwangen, im Klosterhof von Langenzenn oder im Garten-Wehrgang von Dinkelsbühl – fast überall, wo das auffrischende „Sommertheater“ dem schläfrigen Kulturbewusstsein eine biologisch einwandfreie Sauerstoffmaske verpasst und dabei den regionalen Fremdenverkehrsverbänden die Bilanzen aufhübscht, wird in dieser Saison christliche Folklore bei geöffneten Konfessionsschranken geboten. Wenn Reform-Jubilar Martin Luther persönlich auftritt (Kreuzgang, Klosterhof) oder sein „süddeutscher Vertrauensmann“ Brenz für eine lokale Ehrenrunde Treuherzigkeit reanimiert wird (Kirchentreppe), ob von der Gegenfraktion der Freistil-Theologe Don Camillo (Schwäbisch Hall) draufhaut oder der weißblau-erzkatholische Brandner Kaspar, den vermutlich überkonfessionellen Boandlkramer austrickst (Röttinger Burghof Brattenstein, Weißenburger Bergwald) – 2017 passt fast alles wie geschmiert zur aufgelockerten Ausflugs- & Leitkultur.
AUF DEN SUPERSTAR FOLGT DER „GEHORSAME REBELL“
Im Vorjahr war ja noch „Jesus Christ Superstar“ selbst als Heils-und Quotenbringer am geschlossenen Portal der Schwäbisch Haller Michaelskirche angetreten, in dieser Saison muss man also mit dem Debüt eines inoffiziellen Filialleiters von Martin Luther zufrieden sein. BRENZ heißt er, um 1548 wirkte er aufrührerisch sinnstiftend in dieser Gegend als süddeutscher Agent des Wittenberger Reformators. Während er jetzt erstmals unters Licht einer Bühne tritt, also sowieso nur per Auftrags-Uraufführung in den Spielplan geholt werden kann, darf sein einstiger Chef sogar auf den Hintergrund mittelgroßer Kinokarriere verweisen. Das hilft den Akteuren um Gabriele Küffner in Langenzenn sehr, denn die dortigen Hans-Sachs-Spieler (passt gut, denn der Nürnberger Schuster-Poet war ein früher Lutherianer) nehmen ein Drehbuch von 1952 mit dem von vatikanischen Kreisen bis heute entschieden angezweifelten Titel DER GEHORSAME REBELL als Basis ihres Projekts LUTHER. Das tun die Feuchtwanger und ihr Hamburger Regisseur Yves Jansen beim 50 Jahre später mit der Mittelpunkt-Platzierung von Joseph Fiennes durchtrainierter Figur entstandenem Hollywood-Film auch. Sie stellen den griffigen Spruch HIER STEHE ICH, ICH KANN NICHT ANDERS vieldeutig als Untertitel dazu. Für Spannung sorgt vorerst die Frage, wo man im steinernen Kreuzgang die Thesen wohl hin nageln kann.
EINE ANALPHABETIN BEDRÄNGT GÖTZ VON BERLICHINGEN
Auch im Sommer 2017 werden beim Branchenführer auf der Luisenburg unweit von Wunsiedel, mitten im Fichtelgebirge, etwa 150.000 Zuschauer erwartet. Im Kreuzgang von Feuchtwangen, in der Alten Hofhaltung am Bamberger Dom und selbst im kleinen Dinkelsbühler Wehrgarten wehen die lauen Abendwinde vor dicht besetzten Reihen durch immer weiter ins Breite strebende Spielpläne, wobei mehr denn je die Schwerpunkte von der Klassik zur Musikshow, vom Komödienstadl zur Bestseller-Adaption und vom vorgestrigen Zeitgenossen der Moderne zum aktuellen Kino-Blockbuster verschoben werden. Also statt Shakespeares „Hamlet“ inzwischen lieber das melodiöse Miau der Broadway-„Cats“, statt Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ 2017 eher „Pater Brown“ und statt „Der verkaufte Großvater“ nun der Versuch, aus Jonas Jonassons Nachfolgewerk zum „Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg“, also DIE ANALPHABETIN, DIE RECHNEN KONNTE, ein Roadmovie für den Ort zu formen, der historisch eigentlich immer dem barschen Gruß des Götz von Berlichingen reserviert war. Die Frage, ob da eine eigenwillige Variante von darstellender Kunst gepflegt oder vor allem der Tagestourismus mit populären Titeln angekurbelt wird, stellt sich längst nicht mehr so polemisch wie noch vor einigen Jahren. Man sieht die Auflösung strenger Regeln zunehmend gelassen.
ROLLENDER EINSATZ DER ZIEMLICH BESTEN FREUNDE
Es war ja zunächst alles etwas uriger beim Freilichttheater, wo kühle Brisen oder Nieselregen den Zuschauer oft auch körperlich herausforderten. Da wurden Wolldecke und Regencape zur Vorbereitung ja wichtiger, als das Reclamheft mit dem überprüfbaren Dichterwort. Inzwischen ist überall aufgerüstet, alles wurde professioneller, bequemer. Der Sommertheater-Freund soll nichts vermissen müssen. Das gilt ganz besonders für die Dehnbarkeit des Produktsortiments. Nun funkelt plötzlich das Showbusiness aus allen Ecken. 2017 wird aus dem Trend die große Wende zum Entertainment. Neun Musicals sind im Angebot (etwa „Catch me if you can“, „Kiss me, Kate“, „My Fair Lady“, „Petticoat und Minirock“, „Cats“, „Maria ihm schmeckt‘s nicht“, „Dreigroschenoper“, „Heidi“ und der in Augsburg am großräumigen Roten Tor an 25 Abenden angesetzten „Rocky Horror Show“), sieben Filme sind zu Live-Acts verarbeitet (mehrfach rollen „Ziemlich beste Freunde“ über die Freilichtbühnen), eben noch zwischen Buchdeckeln eingesperrte Romane werden ins Belüftungssystem durchgereicht. Das dröhnende Wort als Umgangston und das Plakat als Bildbehauptung, einst bei der Präsentation der Klassiker diskret entwickelt, ist beim naturgemäß noch mehr auftrumpfenden Musical die neue ästhetische Grundregel.
ETWAS SKANDALSTIMMUNG BEIM MARKTFÜHRER
Das neue Selbstwertgefühl hat mit Entwicklungssprüngen der Marktführer zu tun. Seit 2004, da der Münchner Michael Lerchenberg auf der imposanten Luisenburg das Sagen hat (vorher war er schon als der infam süßliche Prälat aus der TV-Serie des „Bullen von Tölz“ und besonders kritischer Nockherberg-Prediger populär), schaukelt fast alles auf dem Programmkarussell. Das Musical gilt inzwischen als Lockmittel zum Anfixen fürs etwas andere Publikum. Neue Zuschauerrekorde und künstlerischer Aufwind bewahrten Lerchenberg freilich nicht vor Intrigen aus den Reihen der Provinzpolitiker, die gleichzeitig mitmischen und einsparen wollen. Er reagierte nach zwölf Jahren entnervt mit vorzeitiger Kündigung seines laufenden Vertrags und stellt in diesem Sommer der Gemeinde zum Abschied statt Blumen eine berüchtigte Schimpftirade von Thomas Bernhard provokativ zwischen die Bäume. Das Stück „Der Theatermacher“ von 1985 ist nicht nur die allererste Bekanntschaft des sprachgewaltigen österreichischen Attackier-Poeten mit den Ranschmeißer-Gesetzen der Freilichtspiele, sie bietet dem Intendanten (als Regisseur und Hauptdarsteller) im eher auf Salzburg zielenden, aber für Wunsiedeler Kleingeist-Spiegelungen nicht ungeeigneten Originaltext um die Kunstkatastrophe beim Blutwursttag in Utzbach auch die Gelegenheit zur Generalabrechnung mit dem etablierten Mittelmaß der (fränkischen?) Gesellschaft. Kein Wunder, dass etliche Ratsherren der Juli-Premiere mit gemischten Gefühlen entgegen sehen, gar einen inszenierten Skandal erwarten. Kann sein, dass es zur Abwechslung im Fichtelgebirge mal metaphorisch gewittert. Die meisten Abende gehören jedoch sowieso dem problemfreien Musical. Da wird neben einer weiteren Serie der singenden CATS auf den Felsen zwischen den Bäumen das „Familienmusical“ HEIDI entwickelt, frei nach Johanna Spyris mehrfach verfilmten und immer noch herzerwärmendem Jugendbuch, in dem es am Ende vor Gutherzigkeit nur so brummt. Man erinnert sich sofort: Schicksal eines Waisenkinds, grantiger Alm-Öhi im Läuterungsprozess, gelähmte Klara, fröhlicher Geißen-Peter – und „deine Welt sind die Be-her-ge“. Gemach, die Musik zur Verpflanzung von den Schweizer Alpen ins Fichtelgebirge wird von Hans-Jürgen Buchner samt „Haindling“ geschaffen.
Und für Nürnberger gibt es einen zusätzlichen lokalpatriotischen Grund: Maria Kempken (die inzwischen bei Film und Fernsehen gut beschäftigte Tochter von Stepdance-Queen Julia Kempken und Enkelin des Schauspielers Helmut Kempken) spielt, singt und tanzt die Titelrolle.
NÜRNBERG-NOSTALGIE: GEHT DA NOCH WAS?
Um nochmal daran zu erinnern: Nürnbergs Freilichtspiel-Tradition verläuft gegen alle aktuellen Trends rundum im Nichts. Einst reiste im Juli das komplette Stadttheater-Ensemble mit mehr oder weniger passenden Produktionen aus dem laufenden Spielplan („Freischütz“, „Wilhelm Tell“) zu Sonntagsausflügen in den Bergwald von Weißenburg. Für Extra-Inszenierungen an sandsteinernen Orten Nürnbergs gab der Etat auch noch etwas her. Im Hof des Heilig-Geist-Spitals konnte man die historische „Bettler-oper“ erleben, die Katharinen-Ruine wurde mit dem Raum-Spektakel „Die drei Musketiere“ erobert. Dort folgten später „Die Räuber im Spessart“ und Oskar Panizzas lästerliches „Liebeskonzil“ als rasantes Blasphemical. Zuletzt montierte der im Sommer 2018 in den Ruhestand wechselnde Schauspiel-Chef Klaus Kusenberg in seiner ehrgeizigsten Anfangsphase den extra in Auftrag gegebenen „Fränkischen Jedermann“ von Fitzgerald Kusz in den Museumshof des Germanischen Nationalmuseums. Das war 2002, seither hat sich das Nürnberger Theater unters sichere Dach zurückgezogen.
Ob der neue Intendant Jens-Daniel Herzog und sein junger Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger ab 2019 mit dem Nürnberger Sommer eigene Pläne haben, im Freilichttheater auch eine künstlerische Chance sehen, ist offen. Wünschen würde man sich schon, dass – wie drumherum jedes Jahr bei den kleineren Nachbar-Theatern in Augsburg und Bamberg ganz selbstverständlich – auch hier so etwas wieder auf der Tagesordnung stünde. Es muss nicht unbedingt ein Musical, es darf auch etwas Originelles sein.
DIE AKTUELLEN SPIELPLÄNE 2017 DER BELIEBTESTEN FREILICHTSPIELE IN NORDBAYERN (UND KNAPP JENSEITS DER LANDESGRENZE).
DIE DATEN/TERMINE SIND SO IM NETZ ZU FINDEN:
LUISENBURG WUNSIEDEL
Andrew Lloyd Webber CATS --- Alois Johannes Lippl DIE PFINGSTORGEL --- Thomas Bernhard DER THEATERMACHER --- Eva Toffol nach Johanna Spyri HEIDI.
luisenburg-aktuell.de
KREUZGANGSPIELE FEUCHTWANGEN
LUTHER nach dem Film von 2003 --- Cole Porters KISS ME, KATE --- Wolfgang Herrndorfs TSCHICK.
kreuzgangspiele.de
FREILICHTSPIELE SCHWÄBISCH HALL
Uraufführung des Historiendramas BRENZ 1548 --- DON CAMILLO UND PEPPONE nach Guareschi-Roman und den Filmen --- Musical MARIA IHM SCHMECKTS NICHT nach Jan Weilers Roman und dem gleich-namigen Film
freilichtspiele-hall.de
FREILICHTBÜHNE IM WEHRGANG DINKELSBÜHL
Schlager-Show PETTICOAT UND MINIROCK --- PATER BROWN nach den Filmen --- ZIEMLICH BESTE FREUNDE nach dem Film.
landestheater-dinkelsbuehl.de
CALDERON-SPIELE BAMBERG, ALTE HOFHALTUNG
Carlo Goldonis DER DIENER ZWEIER HERREN.
theater.bamberg.de
BERGWALDTHEATER WEIßENBURG
Der Brandner Kaspar --- Die unendliche Geschichte.
bergwaldtheater.de
KLOSTERHOFSPIELE LANGENZENN
LUTHER nach dem Film-Drehbuch von 1952
klosterhofspiele.de
BURG BRATTENSTEIN RÖTTINGEN
Brecht/Weills DREIGROSCHENOPER --- MY FAIR LADY --- DER BRANDNER KASPAR.
frankenfestspiele.de
BURGFESTSPIELE JAGSTHAUSEN
Musical CATCH ME IF YOU CAN --- ZIEMLICH BESTE FREUNDE nach dem Film --- Uraufführung DIE ANALPHABETIN DIE RECHNEN KONNTE (nach Jonas Jonassons Roman) --- Goethes GÖTZ VON BERLICHINGEN
burgfestspiele-jagsthausen.de
AUGSBURGER FREILICHTSPIELE AM ROTEN TOR
Richard O‘Briens THE ROCKY HORROR SHOW.
theater-ausburg.de
ALTMÜHLSEE-FESTSPIELE MUHR AM SEE
Modernisierte Neufassung von Kleists DER ZERBROCHNE KRUG --- Fitzgerald Kusz BURNING LOVE --- Paul Linckes Operette FRAU LUNA, Konzertant am See.
altmuehlsee-festspiele.de
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