Hauptmanns Tragikkomödie "Die Ratten"
#Dieter Stoll, #Kolumne, #Kritik, #Schauspielhaus, #Theater
„Wanzenburg“ soll der Berliner Volksmund solche verkommenen Mietshäuser wie dieses zu Zeiten der Ehrenrunde von Gerhart Hauptmanns letztmals siegreichem Naturalismus genannt haben. Aber spätestens seit Michael Thalheimer vor nun auch schon wieder fast zehn Jahren die Figuren der Tragikomödie „Die Ratten“ geduckt durchs Querschnitt-Labyrinth schickte, wird niemand mehr das Bröckeln der Originalkulisse als Grundvoraussetzung einklagen.
In der Nürnberger Inszenierung von Sascha Hawemann, die ziemlich genau doppelt so lange dauert wie die von Thalheimer, käme kein Kammerjäger auf seinen Mindestlohn, denn auf den ersten Blick ist klar, dass hier selbst die titelspendenden Ratten nur für Metaphern gebraucht werden. Wir sind nicht im Leben, wir machen Theater.
Ein Rahmen aus Leuchtstoffröhren umschließt das Portal und wird später durch eine etwas kleinere Bühne auf der Bühne in gleicher Aufmachung gedoppelt. Der sogenannte komische Strang der Geschichte, die allzeit hohl dröhnenden Auftritte des Theaterdirektors im Karrierestau, der da auf dem Dachboden seinen kompletten Fundus samt geblähtem Ego zwischengelagert hat, schiebt sich in den Vordergrund. Es ist der direkte Weg vom Regie-Einstieg zur Entspannungsübung, denn zunächst blickt der Zuschauer in den Treppenhaus-Abgrund, wird durch eine muntere Komödiantentruppe davon abgelenkt und sieht diesen acht Schauspieler*innen in Unterwäsche (Grundausstattung Normalvertrag: Damen in Seide, Herren eher Feinripp) sodann an sechs rollenden Kostümständern entlang bei der Suche nach dem passenden Outfit zu. Die Darstellerin der tragischen Frau John – jener „Reinigungskraft“, für die der Dramatiker im Dialog-Umweg das gleiche Recht auf Größe wie für Lady Macbeth fordert – greift nach adrettem Chic. Sie rechnet den Traum vom besseren Leben wohl gleich mit ein. Julia Bartolome spielt die Mutter, die ihr verstorbenes Kind durch das Baby des polnischen Dienstmädchens ersetzen und alle täuschen will, mit trotzig verweigertem Unrechtsbewusstsein. Zusammen mit dem Attacken-Auftritt der betrogenen Pauline Piperkarcka (die Nürnberger Hochbegabung Josephine Köhler auch hier unübersehbar intensiv im Einsatz) muss sie über weite Strecken der Aufführung die Tragik fast alleine übernehmen. Selbst der mörderische Bruder Bruno, von Stefan Willi Wang in Volltätowierung wie eine Quengel-Hommage an Martin Semmelrogge gespielt, gehört zu den Schmunzelmonstern dieses Abends. Sprachlich ist er insgesamt, bei unterschiedlich locker bewältigtem Kunst-Berlinerisch, auf den Grundton „Keifen“ festgelegt. Kein Problem für die Schauspieler, Inspiration aber auch nicht.
Sascha Hawemann hat beschlossen, sein Konzept-Heil gegen den Trend in der brachialen Aufwertung der Komik zu suchen. Zwar nutzt er den Szenen-Kasten von Bühnenbildner Wolf Gutjahr mit Wänden aus Packpapier zum spielerisch fetzenden Erlebnisangebot für jeden Akteur, doch viel mehr interessiert ihn das Parodie-Potenzial von Leitkultur-Prinzipal Harro Hassenreuter und seinem Anhang. Stefan Lorch spielt ihn als Edel-Striese mit Sprechblasen-Auswurf, treibt die Kuriositäten-Schau von (manchmal sogar überrumpelnd lustigen) Kantinen-Späßchen neben matten Berlin-Witzchen schließlich sogar so weit in die Klamottenseligkeit, dass es manchem Zuschauer wie ein Trailer für die nächste Nürnberger Premiere vorgekommen sein mag – aber „Pension Schöller“ wird erst ab morgen geprobt.
Im letzten Viertel folgt plötzlich die scharfe Kurve in die Tragödie. Da hat der Regisseur längst alle Grimassen des furchtlosen Ensembles ausgebeutet, Regieanweisungen samt Interpunktion aufsagen lassen und die besondere Begabung von Philipp Weigand mit dem glänzend bewältigten Auftrag für zwei Töchter-Rollen und ein konzertierendes Geister-Baby mit Harmonika positioniert. Dann ruft der Hassenreuter noch einmal sein „Nach Straßburg!“ so emphatisch als ob er Anton Tschechows Moskau und Thomas Bernhards Augsburg zwangsvereinigen wollte, ehe seine Bühne zur allgemeinen Überraschung direkt vom Dachboden als Thespiskarren davonrollt. Die Zuspielung von traurigen Wiegenliedern und die finale Melancholie der Quetschn erinnert noch im letzten Moment daran, welches Stück wir soeben verpasst haben.
Schauspielkritik von Dieter Stoll
für das Kritiken-Portal nachtkritik.de (Berlin)
www.nachtkritik.de
„DIE RATTEN“ von Gerhart Hauptmann
Regie: Sascha Hawemann
Weitere Vorstellungen im Schauspielhaus:
09.03.2017 – 19.30 Uhr
17.03.2017 – 19.30 Uhr
18.03.2017 – 19.30 Uhr
21.03.2017 – 19.30 Uhr
31.03.2017 – 19.30 Uhr
01.04.2017 – 19.30 Uhr
05.04.2017 – 19.30 Uhr
08.04.2017 – 19.30 Uhr
15.04.2017 – 19.30 Uhr
26.04.2017 – 19.30 Uhr
03.05.2017 – 19.30 Uhr
17.05.2017 – 19.30 Uhr
31.05.2017 – 19.30 Uhr
27.06.2017 – 19.30 Uhr
07.07.2017 – 19.30 Uhr
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