Je suis Fassbinder: Deutschland im Herbst mit Burka-Disco
#Dieter Stoll, #Kolumne, #Staatstheater Nürnberg, #Theater
Aus dem Lastenaufzug schlendert das Ensemble aus Schauspielern und Tänzern lässig in Wellness-Kluft auf die weite offene Bühne der Tafelhalle. Retro-Tapete und ehrwürdige Stühle aus Muttis Küche wie aus einer verwunschenen Sammlung des nahen Museums Industriekultur hatten dem Publikum bereits gemütliche Nostalgie versprochen. Kein Grund zur Aufregung? Von wegen!
Bis die Damen und Herren den Einstieg in Zivilbekleidung gefunden haben, ist auf den Videowänden über dem milden Design-Anachronismus (effektsicher platziert von Ausstatter André Schreiber) schon das ganze Elend eines Umsturzjahres in Dokuschnipseln vorbeigeflimmert. Deutschland im Herbst 2016: Krieg, Ruinen, Migranten, Agitation pro und contra, Politik im Taumel-Modus. Das Sündenregister einer alles erschütternden Grundsatzdebatte per Schnelldurchlauf, die Anarchie des Unbehagens wird fixiert. Aber erst mal Blick zurück, Zorn inbegriffen. „Je suis“ zielt ja vor allem auf Fassbinder. Er ist der Kronzeuge, der Über-Pate des Projekts.
Ist die Demokratie „die menschlichste Staatsmacht“ oder bloß „das kleinste Übel“, bevorzugen gewalttätige Frauenhasser bestimmte Religionen oder den Karneval, muss der echte deutsche Mann endlich mal wieder jemandem wehrhaft „in die Fresse schlagen“ oder wie viele Dalli-Dalli-Punkte kriegt man für Antworten zur Frage, was „Europa“ ausmacht. Und, einfach mal an Autor und Regisseur zurückgefragt, passt dieser Papst wirklich an den Pranger neben Le Pen und Beatrix von Storch? In Falk Richters „Je suis Fassbinder – Deutschland im Herbst 2016“, ein halbes Jahr nach der Straßburger Uraufführung erstmals in deutscher Sprache inszeniert, wird Stimmungslage auch zeitverzögert in Spätlese geerntet. Der zitatenfrohe Text, bei dessen Lektüre trotz der RWF-Quellenangaben die Erinnerung an Richters vieldiskutierte „Fear“-Produktion vom Vorjahr an der Schaubühne oft geradezu übergriffig wirkt, spiegelt die unheimliche Fortschreibung dieser Notstandsskizze in fast 40 Jahre zurückliegenden Verwerfungen. Im Episodenfilm, den Rainer Werner Fassbinder Ende 1977 nach Schleyers Ermordung und der „Todesnacht von Stammheim“ unter anderem mit Schlöndorff, Kluge und Reitz als Statement gegen hysterische Zeiten drehte, sucht der damals achtjährige Falk Richter heute die Reflektionsfolie für seinen fassungslos wütenden Blick auf die Realität. Was er da sieht, mag er nicht mit Poesie schminken, den Dienst als optimistisches Postfaktotum verweigert er in empörten Texten. Richter spielt dabei mit der Entblößung im Fassbinder´schen Verzweiflungsdialog, den der mehr und mehr entnervte Sohn mit seiner nah am Volksempfinden siedelnden Mutter vor der Kamera führte (am Ende wünscht sie sich als goldenen Kompromiss den „autoritären Herrscher, der ganz gut ist und ganz lieb und artig“) und überblendet den O-Ton der historischen Krise mit dem aktuellen Alarm. Die Ratlosigkeit, die er in „Fear“ zum Bekenntnis und so zur eigenen Qualität machte, will er nicht nochmal bestätigen. Er leitet sie um auf die Kunstfigur, den nachgestellten und dabei in aller Zerrissenheit wiederbelebten „Rainer“, der sich in die aufgepolsterte Konvention fläzt, um ihr wenigstens ein paar Knitterfalten zu verpassen.
Der Nürnberger Regisseur Barish Karademir dient ganz clever beiden Herren, wenn er Fassbinders wehmütige Stilisierungspsychologie und Richters frontale Multimedia-Attacken zusammenführt, und findet dabei gut funktionierende eigene Bilder. Aus dem Tanz, der hier immer wieder wie körperliche Erschütterung in die Szenenfugen fährt, ploppt ein ziemlich komischer Betriebsausflug von wehenden Schattengestalten in der Burka-Disco, mit dem alle Fronten für den Moment außer Kraft gesetzt sind. Das Ensemble, das Karademir für seine eindrucksvoll im Revue-Rahmen kämpfende Inszenierung zusammenstellte, schafft den Spagat zwischen solch blitzendem Witz und dem Donner blanker Agitation souverän. Ein wenig modifizierte Katie Mitchell darf es dabei auch sein. Das live gefilmte Streitgespräch-Imitat, in das die Gegenwart wie auf einer Schaukel rein und raus schwingt, wird fast unbemerkt vom Kino-Original zur Seite gedrängt. Spätestens dann muss dem Zuschauer klar sein, dass Stück und Aufführung mehr über Fassbinders Psycho-Privatisierung der Weltlage sagen können als über den beschworenen „Herbst“. Es endet annähernd textilfrei, die Darsteller werfen, sobald die Sehnsucht nach dem ganz lieben neuen Führer proklamiert ist, die Klamotten weg und verknäulen sich zum Häufchen Elend, das auch ein Laokoon-Knoten sein könnte. So oder so, keine Einladung, etwas durchzuschlagen.
Der Autor war auch da und im brausenden Beifall sichtlich zufrieden. Ob Falk Richter die Streichung des Kalauers „Petry heil - Heil Petry“ bedauert hat, blieb ungeklärt. Es muss ja nicht der letzte Annäherungsversuch bei Elfriede Jelinek gewesen sein.
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Theaterkritik von Dieter Stoll
für das Kritiken-Portal nachtkritik.de (Berlin)
www.nachtkritik.de
Je suis Fassbinder – Deutschland im Herbst 2016
von Falk Richter (Deutsche Erstaufführung)
Regie: Barish Karademir
Weitere Vorstellungen in der Tafelhalle
13. Oktober 2016, 20.00 Uhr
14. Oktober 2016, 20.00 Uhr
23. März 2017, 20.00 Uhr
24. März 2017, 20.00 Uhr
25. März 2017, 20.00 Uhr
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